Eine gute Geschichte kann sich manchmal in einem einzigen Satz oder einer beiläufigen Bemerkung verbergen. Das sind diese aufregenden kleinen Details, die ich an historischen Texten so liebe; ich bezeichne sie gern als ‘lose Enden’. Sie sind es, die mir die Sicherheit geben, dass mir niemals die Geschichten ausgehen werden.
Neulich stieß ich auf solch eine kurze Bemerkung, die meine Neugier weckte, so dass ich am Ende einer langen Nacht vor vielen offenen Büchern und Browsertabs saß, wieder Neues gelernt und Bekanntes vertieft hatte. Das Ende war dann verblüffend und irgendwie schräge – aber beginnen wir am Anfang.
Ich höre mehr oder weniger regelmäßig den Podcast Zeitsprung – Geschichten aus der Geschichte, der von zwei Historikern gemacht wird, die sich immer gegenseitig eine Geschichte erzählen. Die Art der Erzählung finde ich meist etwas holperig, mir fehlt da ein bisschen der Spannungsbogen, aber die Themenwahl gefällt mir, es sind immer wieder gute Anregungen dabei. Dies soll aber keine Rezension werden, hört vielleicht einfach mal rein.
In einer der letzten Folgen ging es um die Kokos-Insel. Diese liegt südwestlich der Landenge von Panama im Pazifik und kann auf eine lange Karriere als vermeintliche Schatzinsel zurückblicken. Ein reicher Fundus für verrückte Stories also.
Ein Name ließ mich hellhörig werden: unter all den Piraten und Abenteurern, die mit der Kokos-Insel in Verbindung gebracht werden, wurde auch William Dampier genannt. Er wird aber im Podcast nur kurz erwähnt, und die Aussage, was er nun genau da gemacht hat, ist nicht ganz eindeutig.
Ohne nachzuschlagen war ich mir sicher, dass Dampier die Insel kannte, schließlich hat er sich auf seinen Weltreisen und Kaperfahrten mehrfach in genau der Region rumgetrieben, und solche Inseln wurden von Freibeutern gern als Versteck und Proviantlager genutzt. Was aber hat er genau dort getrieben?
War Dampier je auf der Kokos-Insel?
Also habe ich mal versucht, mehr über diese Episode herauszubekommen. Ich nahm an, dass die Podcaster sich auch bei Wikipedia schlau gemacht hatten, also begann ich dort mit der Suche. Und siehe, dort stand:
Nachweislich hat der britische Pirat und Entdecker William Dampier die Kokosinsel im Jahr 1684 aufgesucht, wie er in seinen Aufzeichnungen selbst berichtet.
Die genannte Quelle, A Collection of Voyages (1729), enthält allerdings diese betreffende Reise gar nicht. Die Seitenangabe 111 passte aber genau zu seinem Buch A New Voyage Round the World (1699), so dass ich annehme, dass es sich hier einfach um einen Flüchtigkeitsfehler gehandelt hat.
Was also weiß William Dampier über die Kokos-Insel zu berichten?
So gingen wir am 12. Juni [1684] wieder unter Segel mit dem Vorsatz, die Kokosinsel zu berühren, wo uns der große Überfluss dieser Früchte eine angenehme Erfrischung versprach. Die Winde waren uns jedoch so ungünstig, dass wir am Ende verzweifelten, die Kokosinsel zu finden, und mittlerweile waren wir auch zu weit nach Norden geraten, als dass wir dort noch hätten landen können.
Danach gibt er eine kurze Beschreibung der Insel, und schließt mit den Worten:
So berichten die Spanier, und ich hörte dasselbe von Captain Eaton, der später dort gewesen war.
Aus seinen Schriften geht also nicht hervor, dass Dampier jemals selbst auf der Kokos-Insel gewesen ist. Seine Beschreibung basiert auf Berichten aus zweiter Hand, wie er vorbildlicherweise vermerkt.
Die Passage ist im Originaltext noch etwas verworrener, beim Überfliegen kann einem eventuell schonmal entgehen, dass er die Insel verfehlt hat. Bei einer Quellenrecherche für Wikipedia sollte einem sowas aber natürlich nicht passieren.
Hat Dampier irgendwo Schätze versteckt?
Weiter mit Wikipedia:
Ihm wird nachgesagt, dass er einen Teil seiner Beute dort versteckt habe.
Dafür gab es gar keine Quellenangabe. Ich habe zwei Biografien und etliche Texte aus allen möglichen Zeitaltern über William Dampier gelesen, und bin dort nie auf eine solche Aussage gestoßen.
Dampier hat kaum je irgendwelche Schätze besessen. Zu jener Zeit – es war der Auftakt zu seiner ersten Weltreise – war er kein Piratenkapitän, sondern nur ein einfaches Crewmitglied unter vielen. Er betonte mehrfach, dass er seine Aufzeichnungen als seinen größten Schatz ansah, und dass er nicht auf der Suche nach Reichtum war, sondern einfach die Welt sehen wollte. So suchte er auch, wenn sich eine Crew aufspaltete, dasjenige Schiff aus, welches eine Weiterreise in unbekannte Gegenden versprach.
Man glaubt gar nicht, wie erfolglos die allermeisten Kaperfahrten unterm Strich waren. Meist konnten die Freibeuter froh sein, wenn sie genug zu Essen hatten und irgendwo Wasser fanden. Die häufigste Beute bestand aus irgendwelchen Handelsgütern und Lebensmitteln – Stoffballen, Mehlsäcke; wenn es gut lief, Wein und Rum.
Hier war schon immer eine große Portion Piratenromantik im Spiel. Die Piraten, die wirklich reich wurden – und ihren Reichtum auch noch genießen konnten – kann man an einer Hand abzählen (das mach ich vielleicht ein andermal).
Wer auch immer behauptet hat, Dampier hätte irgendwelche Schätze besessen und versteckt, muss wohl irgendwas missverstanden und durcheinanderbekommen haben. Oberflächliche Recherche, anekdotische Evidenz, Stille-Post-Effekt? Schwer zu sagen.
Man muss fairerweise dazusagen, dass diese ganze Freibeuterbagage oft schwer auseinanderzuhalten ist. Zu jener Zeit trieben sich diverse Freibeutercrews in der Südsee rum, um spanische Schiffe und Siedlungen zu plündern. (Südsee war die damalige Bezeichnung für den Pazifik an der süd- und mittelamerikanischen Westküste. Polynesien, das wir heute mit dem Begriff verbinden, war damals praktisch unbekannt.)
Manche waren zu Fuß über die Landenge von Panama gekommen und haben sich am Pazifik ein neues Schiff geklaut. Andere (so auch Dampier) waren in der Karibik oder Nordamerika gestartet und um Kap Hoorn herumgesegelt. Am Golf von Panama traf man sich wieder. Manche Schiffe segelten für eine Weile zusammen, um vereint Beute zu machen, man stritt sich und trennte sich wieder; Crews spalteten sich auf, sobald weitere Schiffe gekapert wurden; Kapitäne starben, wurden abgesetzt, neu gewählt …
Dampier fuhr zu jener Zeit unter einem Captain Cook (manchmal auch Cooke), der hieß allerdings John, und hatte mit seinem berühmten Namensvetter James (der circa hundert Jahre später lebte) nichts zu tun. Kurz nach der Episode mit der Kokos-Insel 1684 starb jener Captain Cook. Als Nachfolger wurde ein gewisser Edward Davis zum Kapitän gewählt. Vielleicht hat irgendjemand mal Davis mit Dampier verwechselt, denn auch Captain Davis wird nachgesagt, einen Schatz auf der Kokos-Insel versteckt zu haben, bevor er 1702 spurlos verschwand.
Dazu kommt, dass die alten Reiseberichte eher chaotisch gegliedert, und Sprache und Satzbau sehr gewöhnungsbedürftig sind. Die deutsche Übersetzung von 1702 (die auf einer französischen Version beruht) ist fast noch anstrengender zu lesen als das englische Original.
In den beiden englischen Dampier-Biografien, die ich hier liegen habe, werden bei der Darstellung von Ereignissen oft Schilderungen von Dampier mit denen anderer Freibeuter vermischt, so dass man schon mal den Überblick verliert, was jetzt Dampiers Erlebnisse waren, und was aus anderen Quellen stammt. So mag es nicht verwundern, wenn da im Laufe der Geschichte das ein oder andere durcheinandergerät.
Kleine Spitzfindigkeit am Rande: Wenn, wie gesagt, die Beute vieler Raubzüge nur aus Lebensmitteln bestand, und wenn man weiß, dass die Freibeuter auf der Kokos-Insel gern Lebensmittellager anlegten, so ist die Aussage “… versteckte(n) einen Teil der Beute auf der Kokos-Insel” an sich sogar sachlich korrekt. Ich nehme aber nicht an, dass das hier so gemeint war …
Stimmt die Zeitangabe?
Stimmt vielleicht die Jahreszahl 1684 nicht, und Dampier hat auf einer seiner späteren Reisen einen Schatz versteckt? Er war tatsächlich noch mehrfach in der Region, letztlich wurde er genau deshalb engagiert, weil er diese Meere, ihre Winde und Strömungen kannte – und die guten Inseln, die für Rast und Proviantierung so wichtig waren.
Seine Biografien geben wie gesagt keinerlei Hinweise darauf. Die zweite Weltumsegelung war finanziell und organisatorisch ein ziemliches Fiasko. Auf der dritten haben sie zwar ordentlich Beute gemacht, aber hier war Dampier nur Navigator unter Kapitän Woodes Rogers, der nie mit der Kokos-Insel in Verbindung gebracht wurde. Man brachte die Beute heim nach England, und während man sich noch langwierig um die Verteilung stritt, starb William Dampier im Alter von vierundsechzig Jahren, verarmt.
Freundlicherweise hat ein Wikipedia-User inzwischen eine Quellenangabe nachgereicht. Demnach entstammt diese Behauptung dem Buch Das Geheimnis der Schatzinsel von Ina Knobloch. Das Buch ist mir nicht bekannt, ich weiß nicht ob die Autorin selbst diese Behauptung aufstellt, oder ob sie sie nur wiedergibt. Da werde ich mal meine Fahrbücherei fragen, ob sie mir das besorgen können.
War vielleicht eine andere Kokosinsel gemeint?
Ein letzter spekulativer Gedanke kam mir noch: es gibt eine ganze Menge Kokosinseln auf der Welt. Ist Dampier vielleicht auf einer anderen Insel dieses Namens gewesen?
Tatsächlich findet sich im Register seines Buches noch ein zweiter Eintrag:
Cocosinseln, im Indischen Ozean
Wenn er die eine Insel verfehlt hat, könnte vielleicht ursprünglich diese andere gemeint gewesen sein? Das ganze handelt zwei Jahre später, nachdem sie den Pazifik überquert und Australien (Neu-Holland) erreicht hatten – damals noch eine seltene seemänische Meisterleistung. Dampier schreibt hier schon in der dritten Person über seine Bordkameraden. Man hat sich entfremdet, und er sucht nach einer Möglichkeit, sich abzusetzen.
Ferner nahmen sie sich vor, unterwegs die Kokosinsel zu besuchen, weil sie hofften, dort die Früchte zu finden, von denen die Insel ihren Namen hat.
Am 12. März 1686 segelten wir (…) von Neu-Holland ab. Wir fuhren nach Norden, doch mussten wir der Winde wegen dann einen östlichen Kurs nehmen, um die Insel nicht zu verfehlen. Sobald wir wieder auf offener See waren, bekamen wir sehr schlimmes Wetter (…) Am 26. März waren wir auf der Breite der Kokosinsel, jedoch (…) 40–50 Meilen östlich von ihr. Weil wir nun Südwestwind hatten, wollten wir doch lieber nach den im Westen Sumatras gelegenen Inseln gehen als mit Gegenwind nach der Kokosinsel. Mir war das sehr lieb, weil ich die Hoffnung bekam, ich würde auf Sumatra oder an einem anderen Orte entwischen können.
Diese zweite Kokosinsel liegt übrigens nicht nur im übertragenen Sinne, sondern buchstäblich am anderen Ende der Welt. Die beiden Kokosinseln sind fast exakte Antipoden.
Original: Wikimedia Commons [CC BY-SA 2.5]
Beide Inseln hat William Dampier beschrieben, beide hat er angesteuert – und beide Male hat er sie verfehlt. Er ist also nicht nur nicht auf der Kokosinsel gewesen – er ist gleich zweimal nicht dort gewesen!
Hat das jetzt eine tiefere Bedeutung? Ich glaube nicht. Aber ich finde es mal wieder fantastisch, mit was für Geschichten man belohnt wird, wenn man mal ein loses Ende verfolgt.
Fortsetzung: Buch: „Das Geheimnis der Schatzinsel“ sowie Neues von der Kokos-Insel
Anmerkung zu den Übersetzungen
Der Freibeuter (zweites Buch von links) ist eine gekürzte Version der Neuen Reise um die Welt (links). Hier wurde auch die Sprache stärker modernisiert, so dass es am besten lesbar ist. Das Englisch des 17. Jahrhunderts klingt sehr viel moderner als das im Deutschen der Fall ist. Im alten Deutsch klingt Dampier wie ein mittelalterlicher Dorfdepp, deswegen zitiere ich nicht gern direkt daraus. Meist orientiere ich mich also am Freibeuter. Passagen, die dort nicht vorkommen, übersetze ich selbst. Oder ich modernisiere das alte Deutsch, oder beides.
Literatur
Reiseberichte
William Dampier
Neue Reise um die Welt
Ein Pirat erforscht die Erde
Verlag der Pioniere, Berlin 2012
ISBN 978-3941924024
William Dampier
Freibeuter 1683–1691
Bertelsmann (1970)
Lizenzausgabe mit Genehmigung des Horst Erdmann Verlages, Tübingen
ISBN 978-3771101183
William Dampier
A New Voyage Round The World
Ausgabe von 1699
Digitalisat bei Google Books
https://books.google.de/books?id=p3dCAAAAcAAJ
Die beste online-Ausgabe (freies E-Book) gab es bei der University of Adelaide, die leider ihre Online-Library geschlossen haben. Zum Glück ist es noch bei archive.org verfügbar:
https://web.archive.org/web/20180508181256/https://ebooks.adelaide.edu.au/d/dampier/william/new-voyage-round-the-world
Biografien
Anton Gill
The Devil’s Mariner
A life of William Dampier, Pirate and Explorer, 1651–1715
Michael Joseph, London 1997
ISBN 0-7181-4114-8
Diana Preston, Michael Preston
A Pirate of Exquisite Mind
The Life of William Dampier – Explorer, Naturalist and Buccaneer
Corgi Books, London 2005
ISBN 0-552-77210-0
“er ist gleich zweimal nicht dort gewesen!” – geile Pointe!
Die Antipoden-Karte ist auch faszinierend. Und die Abbildung der Bücher bei den Quellenangaben macht Lust, mehr zu lesen.
Hier noch der Korrekturlese-Service: “Man muss fairerweise dazusagen, dass diese ganze Freibeuterbagage oft schwer auseinanderzhalten ist.” – im vorletzten Wort fehlt ein u. :-)
Mal den Originaltext abzubilden, war übrigens auch eine gute Idee. Überhaupt: grafisch erste Sahne, finde ich …
Danke! Ich kaufe ein u …
Schöne Recherche. Danke! :-)
superschöner Blog! Und wie Gaus schon sagt: “grafisch allererste Sahne!”
Hallo Hella, das freut mich, danke fürs Mutmachen :D