Die Karte des Piri Reis – das mysteriöse Meisterwerk

Bronzebüste von Piri Reis
Die einzige wirksame Methode, einen Irrtum in der Geschichte auszumerzen, besteht darin, überzeugend zu zeigen, wie er entstanden ist.

(Frederick J. Pohl, Zit. n. McIntosh)

Vorbemerkung

Dieser Artikel ist eine aktualisierte und erweiterte Version meines Beitrags zum ScienceBlogs Blog-Schreibwettbewerb 2018. Den möchte ich gar nicht mehr verlinken, denn aus heutiger Sicht ist jener Artikel nur teilweise geglückt. Ich habe mich zu sehr auf die Kartografie kapriziert, und versucht, einige Behauptungen mittels eigener Amateur-Kartografie zu überprüfen bzw. zu widerlegen. Doch da wird es sehr schnell sehr komplex. „I was clearly out of my element there“, wie William Dampier sagen würde ;) Mir ist deutlich klargeworden, dass das nicht mein Fachgebiet ist, und ich lieber bei meinen Leisten bleiben sollte: dem Erzählen von Geschichte.

So konzentriert sich dieser Artikel vor allem auf die Geschichte der Überlieferung und Erforschung der Karte durch Wissenschaftler und Amateure gleichermaßen. Vor allem wollte ich herausarbeiten, wie Erich von Däniken zu seinen Aussagen über die Karte kam, denn – Überraschung! – er hat diese Theorien auch nicht erfunden, sondern hat sich auch bei vielen Vorgängern bedient. So verfolge ich vor allem zwei notorische (und falsche) Aussagen über die Karte: Formulierungen wie „astonishingly accurate“,  „erstaunliche Präzision“ oder „außergewöhnlich exakt“ sind bei vielen Autoren anzutreffen, bevor sie bei Däniken zu „absolut Exakt“ werden. Zweitens versuche ich, den Ursprung der darauf basierenden These von „antiken Luftaufnahmen“ zu ergründen. Auf dem Wege hat sich mir auch ein Stück weit die generelle Geschichte der Prä-Astronautik bzw. des Sammelns von „unerklärlichen Phänomenen“ erschlossen, und es war sehr befriedigend, als damit ein guter Teil des „ganzen Bildes“ sichtbar wurde. Solche Zusammenhänge darzustellen entspricht sehr viel mehr meinem Ansatz als Hobby-Historiker, der vor allem gute Geschichten erzählen will.

Schon 2018 nahm der Historiker Gregory C. Mclntosh einigen Raum in meinem Artikel ein, als wohltuend rationales Gegengewicht zu den vielen meist haltlosen Spekulationen. Ich hatte zwei oder drei Artikel von ihm gefunden, die vieles geraderücken. McIntosh hat auch definitiv das Fachwissen, um Pseudowissenschaftler wie Mallery oder Hapgood im Detail zu widerlegen; dieses Feld überlasse ich ihm gern!

Sein Buch aus dem Jahr 2000, The Piri Reis Map of 1513, ist mir damals allerdings entgangen, ich habe es erst neulich im Zuge meiner aktuellen Recherchen entdeckt. In diesem Buch ist die ganze Geschichte detailliert aufgedröselt, und wer es ganz genau wissen will, muss das lesen. Damit mein Artikel nicht auf eine reine Nacherzählung jenes Buches hinausliefe, habe ich mich kartografischer Details weitgehend enthalten; da verweise ich gern auf McIntosh, während ich mich selbst auf die Geschichte der Überlieferung konzentriere, auf Details, die ich selbst zusammengetragen habe.

Inhalt
Einleitung
1. Beschreibung der Karte
2. Übersicht der Deutungen und Theorien
3. Schlussfolgerungen

Einleitung

Die Karte des Piri Reis hatte für mich immer etwas magisches. Als Zehnähriger las ich darüber bei Erich von Däniken. Seine „Erinnerungen an die Zukunft“ haben meine Neugier auf die Welt und letztlich das Interesse für Wissenschaft geweckt. Namen wie Tiahuanaco, Nazca, Piri Reis, Hesekiel und andere waren von einem Zauber umgeben; sie waren Symbole der Verheißung einer spannenden Welt außerhalb meiner Was-ist-was-Kindheitsblase. (Es war eins meiner ersten „echten“ Bücher, unbunt, mit nur wenigen Bildern und manchmal schwer verständlich).

Damals hatte von Däniken leichtes Spiel mit mir; ich war gefesselt von seiner Vorstellung, unsere Erde sei in grauer Vorzeit von Außerirdischen besucht worden, die, als Götter angesehen, unsere gesamte Zivilisation beeinflusst hätten. Und ich war sauer über die Ignoranz “der Wissenschaft”, welche der Autor wortreich beklagte.

Die Karte des Piri Reis gehe, so Däniken, auf eine Jahrtausende alte Weltkarte zurück, sei „absolut exakt“, und könne nur von einer Luftaufnahme abstammen. Sie zeige unter anderem Teile der Antaktis, die zu Piri Reis‘ Zeiten (er war ein Zeitgenosse des Kolumbus) noch gar nicht bekannt war. Die Karte war nur klein und in miserabler Qualität abgebildet, doch ich nahm Dänikens Aussagen damals als gegeben hin, auch wenn Südamerika schon nach dem ersten Augenschein etwas anders aussah als in meinem Schulatlas.

Obwohl ich seitdem natürlich dazugelernt habe, und Ockhams Rasiermesser zu benutzen weiß, hat sich die Magie, die ich damals verspürte, erstaunlicherweise erhalten. Bis heute bin ich sehr interessiert daran, was aus den alten Däniken-Geschichten geworden ist. Selbst wenn man sie – wie es sich gehört – ergebnisoffen erforscht, bleiben es fesselnde Geschichten, von denen ich nicht genug bekommen kann.

Wie alles anfing

Im Jahre 1501 kaperte der Korsar und Admiral des Osmanischen Reiches, Kemal Reis, im Mittelmeer eine Reihe von Schiffen in einem Scharmützel gegen die Republik Venedig. Unter den Gefangenen war ein Spanier, der behauptete, mit Kolumbus gesegelt zu sein. Und er war im Besitz einer Seekarte, die die neue Welt zeigte, und angeblich vom großen Entdecker selbst stammte.

In jener Zeit waren Land- und vor allem Seekarten ein ganz besonderer Schatz. Spanien und Portugal hüteten eifersüchtig ihre Erkenntnisse über die neue Welt. Seit die Portugiesen den Seeweg nach Indien um Afrika herum gefunden hatten, sah sich das Osmanische Reich, welches Jahrhundertelang eine lukrative Schlüsselstelle im globalen Gewürzhandel besessen hatte, an den Rand gedrängt – den Rand einer neuen Welt, deren Mittelpunkt nunmehr der Atlantik werden sollte. Und seit die Mauren 1492 – im Jahr der Entdeckung Amerikas – endgültig aus Spanien vertrieben worden waren, lag dieser verheißungsvolle Ozean für die Arabisch-Islamische Welt ferner denn je. Umso wertvoller war es sicherlich, eine Originalkarte von Kolumbus erbeuten zu können.

Kemal Reis starb im Jahre 1511 (standesgemäß in einem Sturm). Sein Neffe und langjähriger Wegbegleiter Piri erbte den Admiralstitel – und die Seekarten seines Onkels, die er seiner eigenen umfangreichen Sammlung einverleibte. Denn Piri Reis war nicht nur Seemann, sondern auch Kartograf. Historikern ist er bekannt durch sein Seefahrts-Handbuch des Mittelmeeres (Kitab-ı Bahriye), welches seinerzeit so populär war, dass es bis heute in mehreren Ausgaben überliefert ist.

1513 begann er mit der Arbeit an seiner Weltkarte. Die Entdeckung Amerikas lag da gerade zwanzig Jahre zurück; deshalb ist es bemerkenswert, dass ausgerechnet auf dieser osmanischen Karte die Küste Südamerikas schon bis weit nach Süden dargestellt ist – Jahre bevor Magellan in diese Gegenden vorstieß. Vor allem dieser Teil der Karte ist bis heute Gegenstand von Spekulationen.

Da Piri Reis außer Türkisch auch Griechisch, Italienisch, Portugiesisch und Spanisch sprach, war es ihm möglich, sehr vielfältiges Quellenmaterial auszuwerten und zusammenzufassen. Noch bedeutender muss aus heutiger Sicht der Versuch erscheinen, alle ihm zur Verfügung stehenden Karten auf einen einheitlichen Maßstab zu bringen und zu einer Weltkarte zu kompilieren. Wenn man sieht, wie schwierig und komplex das selbst in heutiger Zeit ist (siehe zum Beispiel die Versuche von Lelgemann et al., die Ptolemäischen Koordinaten zu entzerren), muss man diesem Unterfangen höchsten Respekt zollen.

Das Ergebnis war natürlich ein Flickenteppich, an vielen Stellen so ungenau und mehrdeutig, dass die Piri-Reis-Karte bis heute viel Raum lässt für verschiedenste Interpretationen. Für seriösere Wissenschaftler war sie ein außergewöhnliches Exemplar aus der langen Reihe der Weltkarten, die ab circa 1500 versuchten, den neuen Wissensstand nach der Entdeckung Amerikas abzubilden. Für andere war sie ein Schatz „jahrtausendealten Wissens“, das auf prähistorische Hochkulturen oder gleich auf außerirdische Besucher zurückging. Dass die Karte vor allem durch solcherart selbsternannte „Grenzwissenschaftler“ populär wurde, verschaffte ihr unter Wissenschaftlern einen eher zwiespältigen Ruf.

1. Beschreibung der Karte

Die Weltkarte des Piri Reis von 1513
Die Weltkarte des Piri Reis von 1513

Die Piri-Reis-Karte ist sicher eine der schönsten Karten aus dem Zeitalter der Entdeckungsreisen, das Kartenbild mit seinen klaren Linien erinnert schon an heutige Atlanten. Hier ist eindeutig ein Meister seines Fachs am Werk gewesen.

Vorbildlicherweise hat Piri auf der Karte selbst seine Quellen vermerkt, demnach hat er sie aus einer großen Anzahl einzelner Vorlagen zu einer Weltkarte kompiliert: ptolemäischen, indischen, arabischen, portugiesischen – und der Karte des spanischen Seemanns, die direkt auf Kolumbus zurückgehen soll.

1929 wurde die Karte im Topkapi-Palast zu Istanbul (wieder)entdeckt. Es handelt sich offenbar um den westlichen Teil einer Weltkarte, auf Gazellenhaut gezeichnet; das erhaltene Fragment misst ca. 65 × 90 cm; die angenommene gesamte Weltkarte könnte also wenigstens 2 × 1,5 Meter gemessen haben.

Für einen Überblick möchte ich die Karte in vier Teile gliedern:

1. Oben rechts (Nordosten)
Spanien und Westafrika
Diese Küstenlinien sind der genaueste Teil der Karte. Im Vergleich mit anderen zeitgenössischen und selbst heutigen Karten sind die Abweichungen nur gering, und viele Details lassen sich eindeutig zuordnen. Die Küstenlinie Westafrikas haben die Portugiesen schon lange vor Kolumbus recht genau kartiert, und trotz aller Versuche der Geheimhaltung gab es natürlich immer wieder Datenlecks, so dass dieser Teil des Atlantiks zu Piri Reis’ Zeiten schon recht gut bekannt war.

2. Oben links (Nordwesten)
Die Karibik
Dies ist der Teil, der auf die heute verschollene Originalkarte des Kolumbus zurückgeht. Dass hier alles ziemlich grob und ungenau wirkt, liegt vor allem am verschrobenen Weltbild von Kolumbus, der ja bis zuletzt sicher war, Asien erreicht zu haben. Außerdem soll er zwar ein guter Seemann aber ein ziemlich miserabler Geograf gewesen sein.

3. Unten links (Südwesten)
Die Küste Brasiliens
Die Darstellung ist sehr detailliert – was einige Forscher wohl gern mit Genauigkeit verwechseln. Auch wenn jeder, der seinen Weltatlas kennt, hier sofort Südamerika wiedererkennt, so wird es doch problematisch, sobald man ins Detail geht. Da geht kaum mehr etwas zusammen, und nur einzelne Abschnitte lassen sich mit viel gutem Willen zuordnen. Piri Reis beruft sich hier auf portugiesische Quellen.

4. Unten (Süden)
Patagonien / Antarktis?
Hier biegt die Küste Südamerikas weit nach Osten ab. Man sieht auf Anhieb, dass dies nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat. Dies ist der Teil, der laut von Däniken und anderen die Antarktis zeigen soll. Andere vermuten, dass der Zeichner der Karte einfach das teure Pergament bestmöglich ausnutzen wollte und deshalb die Küste Patagoniens kurzerhand abknickte. Einige Details Patagoniens (Halbinsel Valdez, Falklandinseln) könnten eventuell passen, aber Magellan- und Drakestraße fehlen komplett. Was genau Piri Reis sich dabei gedacht hat, ist bis heute Gegenstand von Spekulationen, zumal auch seine Randbemerkung in dem Kartenteil keinen rechten Sinn ergibt (“Hier ist es sehr heiß”).

Binnenland
Die Darstellung des Landesinneren auf der Piri-Reis-Karte ist eher willkürlich. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass die Flussmündungen in Afrika zwar recht genau abgebildet sind, der Verlauf der Flüsse aber nichts mit der Realität zu tun hat. Hier hat sich Reis offenbar von den phantastischen Ausschmückungen der mittelalterlichen Mappae Mundi inspirieren lassen. Die Darstellung von Bergen, Tieren und Fabelwesen in Südamerika laden natürlich zu lebhaften Spekulationen ein – für Aussagen über die Genauigkeit der Karte sind aber letztlich die Küstenlinien relevant.

Texte
Die Sprache ist osmanisches Türkisch, die Schrift arabisch. Viele Inseln und Regionen sind mit Namen beschriftet, die eindeutig auf Spanische und portugiesische Quellen schließen lassen. Außerdem werden, wie auf den Karten jener Zeit üblich, überall kleine Geschichten erzählt, die auf ältere Reiseberichte und mittelalterliche Legenden zurückgehen. Der lange Text links unten enthält die Quellenangaben sowie eine Schilderung der ersten Reise des Kolumbus (“Qülümbü”), die auf die Erzählungen von Kemal Reis’ spanischem Gefangenen zurückgeht.

 

2. Übersicht der Deutungen und Theorien

Das Buch von Paul Kahle: Die verschollene Kolumbuskarte von 1498 in einer türkischen Weltkarte von 1513
Neuer Stoff eingetroffen!

Die frühe Forschung

Paul Kahle: die Kolumbus-Karte (1933)

Paul Kahle war Orientalist und Theologe, und am Fund des Kartenfragments direkt beteiligt. Piri Reis war ihm bekannt als Autor des Kitab-ı Bahriye, eines Seefahrts-Handbuchs für das Mittelmeer, in welchem er seine Weltkarte erwähnte, sowie die Tatsache, dass ein Teil davon auf Kolumbus basiere. Das weckte die Neugier Kahles, da eine Karte von der Hand des Kolumbus zwar belegt, aber bis heute verschollen ist. 1929 stieß er im „Topkapi-Serail zu Stambul“ auf die Piri-Reis-Karte und ließ sich eine Kopie anfertigen.

In seinem 1933 erschienenen Werk Die verschollene Columbus-Karte von 1498 in einer türkischen Weltkarte von 1513 schildert er die Ergebnisse seiner Analysen. Seriöse Forscher, die mit der Materie befasst sind, bescheinigen ihm eine “ausgezeichnete” und “verdienstvolle” Arbeit. Kahle widmet sich in diesem Werk ausschließlich der Darstellung der Karibik, und untersucht, ob sie tatsächlich auf Kolumbus zurückgehen könnte.

Einem Kenner der Materie fällt sofort die große Ähnlichkeit mit der Toscanelli-Karte auf. Der Florentiner Kosmograf Paolo Toscanelli (1397-1482) unternahm als einer der ersten den Versuch, die Welt als Ganzes darzustellen, inklusive der noch unbekannten Regionen westlich von Europa. Von der Existenz des amerikanischen Doppelkontinents konnte er noch nichts wissen, und so stellte er den Atlantik als direkte Verbindung nach Asien dar. Da der Erdumfang seinerzeit unter- und die Ausdehnung Eurasiens überschätzt wurde, verortete Toscanelli Japan, damals Cipango genannt, in etwa dort, wo sich tatsächlich Mittelamerika befindet.

Das kam den Plänen des Kolumbus (der mit Toscanelli korrespondierte und von ihm eine Karte zugesandt bekam) natürlich entgegen. Nicht zuletzt aufgrund der Toscanelli-Karte gelang es ihm, die spanischen Majestäten von seinem Vorhaben zu überzeugen. Und man weiß, dass Kolumbus diese Karte auf seinen Reisen dabei hatte.

Um nun auch nachträglich keine Zweifel aufkommen zu lassen, dass er einen Weg nach Asien – kürzer als um Afrika herum – gefunden hatte, passte er seine Entdeckungen kurzerhand der Toscanelli-Karte an. Das von ihm entdeckte Hispaniola (heute Haiti/Dominikanische Republik) setzte er mit Cipango gleich – obwohl jene Insel bei Toscanelli in Nord-Süd-Richtung verläuft, während Hispaniola sich von Ost nach West erstreckt. Doch Kolumbus behielt Lage und Größe der Insel bei und passte nur die Küstenlinie ein wenig seinen neuen Entdeckungen an. Aus diesem Grunde behauptete er auch bis zuletzt, dass Kuba zum asiatischen Festland gehöre. Er verdonnerte sogar seine Leute bei Todesstrafe dazu, diese Behauptung um jeden Preis zu stützen!

Oben die Toscanelli-Karte; unten dieselbe Region auf der Piri-Reis-Karte. [1] Cipango (Japan) wurde nur ein wenig „umgezeichnet“ (Kahle) zu Hispaniola. [2] Kuba ist als eine Landspitze Chinas dargestellt.
All dies legt Paul Kahle detailliert und überzeugend dar. Und er weist nach, dass die Karte von Kemal Reis’ spanischem Gefangenen von 1501 echt gewesen sein muss, da die Namen auf der Piri-Reis-Karte eindeutig mit denen von Kolumbus’ Reiseberichten übereinstimmen. (Die andere mögliche Quelle für diese Namen, das Bordbuch des Kolumbus, wurde erst sehr viel später veröffentlicht.) Diese Darstellung der Karibik ist also die früheste, die wir kennen (1495/96).

Afet İnan: Die Erfindung der „erstaunlichen Präzision“ (1936)

Kemal Atatürk, der nach dem Ende des Osmanischen Reiches die Republik Türkei begründete, unternahm große Anstrengungen, sein Land in die Moderne zu führen. Auch die Fauenemanzipation war ihm ein Anliegen, und so adoptierte er kurzehand eine ganze Reihe von Mädchen und jungen Frauen, um sie gezielt zu fördern. Eine seiner Adoptivtöchter war die Historikerin und Soziologin Afet Inan, die 1936 eine Untersuchung der Piri-Reis-Karte veröffentlichte. Sie behauptet zum ersten Mal eine für ihre Zeit „außergewöhnliche Exaktheit“ der Karte.

Der Historiker Gregory C. Mclntosh beschreibt es so:

Sie kam zu dem Schluss, dass die Karte von Piri Reis aus dem Jahr 1513 in Bezug auf die Entfernung zwischen Afrika und Südamerika genauer ist als diese Karten [gemeint sind andere Karten jener Zeit]. Sie kam auch zu dem Schluss, dass „die Maßstabsbalken erstaunlich genau sind“, dass „Piris (Karte) im Vergleich zu den anderen Karten dieser Zeit die perfekteste und eigenständigste ist“ und „vom Standpunkt einer fortgeschritteneren Kartographietechnik aus überlegen“. Diese Aussagen sind (…) Übertreibungen und sagen mehr über den pan-türkischen Kemalismus der 1930er Jahre aus, als über die Karte von Piri Reis.

Dieses „Astonishingly accurate“-Mem war im weiteren Verlauf der Geschichte nicht mehr totzukriegen.

Die prähistorische globale Zivilisation

Arlington H. Mallery: Die Antarktis-Hypothese (1953)

1953 bekam der pensionierte U. S. Navy-Kartograf und Amateurhistoriker Captain Arlington H. Mallery eine Kopie der Piri-Reis-Karte in die Hände. Nach „eingehender Untersuchung“ trat er mit der These an die Öffentlichkeit, der südliche Teil der Karte zeige die Antarktis – und zwar aus einer Zeit, als sie noch frei von Eis gewesen sei! Somit müsse die Karte auf jahrtausendealte Vorlagen zurückgehen, und von einer prähistorischen Hochkultur erstellt worden sein.

Heute wissen wir, dass es eine eisfreie Antarktis seit Millionen von Jahren nicht gegeben hat. Das war in den 1950ern vielleicht noch nicht so klar. Alfred Wegeners Theorie der Kontinentalverschiebung – die auch lange für Spinnerei gehalten wurde – begann sich gerade erst durchzusetzen. Im Zuge dessen fühlten sich auch andere berufen, ähnliche Theorien aufzustellen. So vertrat der Historiker Charles H. Hapgood (zu ihm gleich mehr) die These, die gesamte Erdkruste habe sich des öfteren auf einmal verschoben, zuletzt vor etwa sechs- bis neuntausend Jahren. Und so sei der antarktische Kontinent, der bis dahin weiter nördlich gelegen habe, erst vor relativ kurzer Zeit an den Südpol gerutscht und vereist. (Manche vermuten sogar, dort habe Atlantis gelegen …)

Wie offen für neue Ideen die Geowissenschaften damals noch waren, zeigt sich zum Beispiel daran, dass Hapgood für ein wohlwollendes Vorwort seines Buches Earth’s Shifting Crust (1958) niemand geringeren als Albert Einstein gewinnen konnte.

1956 stellte Mallery, mittlerweile 79 Jahre alt, seine Theorien in einer von der Georgetown Universität veranstalteten Radiodiskussion vor. Dort erwähnte er zum ersten mal die Möglichkeit, seine prähistorische „Hochkultur mit Experten in Schiffsbau, Seefahrt, Erkundung, Vermessung, Hydrographie, Astronomie, höherer Mathematik, detaillierten Kenntnissen der Welt und sicherlich einer gut organisierten Regierung“ habe möglicherweise auch schon Flugzeuge zur Kartografierung eingesetzt. Hier haben wir also offensichtlich die Quelle für die Luftbild-Theorie.

 

Charles H. Hapgood: Die alten Seefahrer (um 1960)

Der Historiker Hapgood nahm Mallerys Hypothese begierig auf und beschloss, selbst die Piri-Reis-Karte zu erforschen. Zusammen mit einer Gruppe von Studenten begann er eine eingehende Analyse, die sich über Jahre hinziehen sollte. Dabei nahm er auch die Hilfe der Kartografie-Abteilung der U. S. Navy sowie des MIT in Anspruch. Sein Buch Maps of the ancient sea kings (Deutsch: Die Weltkarten der alten Seefahrer) von 1966 ist mühsam zu lesen, sehr ausschweifend, mit vielen mathematischen Exkursen. Seine Berechnungen wirken zunächst echt beeindruckend und – da es ist dem Laien kaum möglich ist, Hapgoods Vorgehensweise im Detail nachzuvollziehen – auch erstmal ziemlich überzeugend.

Mein Eindruck ist aber eher, dass Hapgood vor allem eine Menge Tamtam um seine Berechnungsmethoden macht und den Leser mit einer Flut von Details erschlägt. Auch auf Karten, die auf den ersten Blick völlig verzerrt und ungenau aussehen, findet er noch “erstaunliche Genauigkeit” (eine seiner Lieblingsfloskeln). Er zerschneidet Küstenlinien, skaliert, dreht und wendet die Einzelteile, um irgendwann seine angeblich mathematisch ermittelte Exaktheit zu postulieren.

Ich denke, man kann einen bestimmten Punkt auf einer alten Karte nicht beliebig genau bestimmen, wie Hapgood vorgibt. Das ist, als wolle man einem unscharfen Foto mehr Informationen entlocken, indem man es besonders hochauflösend einscannt. Es gibt einfach einen Unschärfebereich, den man nicht unterschreiten kann.

Letztlich fällt beim Lesen seines Buches auf, dass Hapgood immer wieder sehr willkürliche Grundannahmen trifft – und dass er von vornherein alles auf seine (von Mallery entlehnte) These hinbiegt, dass es Ausgangs der Jungsteinzeit eine hochentwickelte globale Zivilisation gegeben haben müsse, die schon sphärische Trigonometrie und exakte astronomische Ortsbestimmung beherrschte. Bei all dem gibt Hapgood sich bescheiden, er müsse nicht unbedingt Recht haben etc. Auch diese Disclaimer können aber letztlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich hier um Pseudowissenschaft handelt.

Die Aliens kommen

Pauwels/Bergier: Die Esoteriker

1960: Louis Pauwels und Jacques Bergier veröffentlichen den Bestseller Le Matin des Magiciens (Deutsch: Aufbruch ins dritte Jahrtausend). Hier erzählen sie Mallerys Theorie in knapper Form nach. Ihre eigenen Thesen dazu sind extrem kurz:

Handelte es sich um Kopien von noch früheren Karten? Stammten sie von Beobachtungen an Bord einer Flugmaschine oder eines Raumschiffs? Notizen von Besuchern aus dem Jenseits?

Le Matin des Magiciens ist ein Sammelsurium an Geheimgesellschaften, Ufologie, Prä-Astronautik etc. und es ist bekannt, dass von Däniken hier eine ganze Menge abgeschrieben hat.

Wie gewissenhaft dieses Autorenduo arbeitete, lässt sich z. B. daran ermessen, dass sie Piri Reis mal eben dreihundert Jahre in die Zukunft versetzten:

Mitte des neunzehnten Jahrhunderts übergab ein türkischer Marineoffizier, Piri Reis, der Library of Congress eine Reihe von Karten, die er im Osten entdeckt hatte (…)

Pauwels/Bergier waren eher von New Age beeinflusst, von der Idee, dass Esoterik und Wissenschaft, das Mystische und das Reale sich gegenseitig befruchten und eine neue Synthese des Wissens für die moderne Zeit (sprich, das Zeitalter des Wassermanns) bilden würden. Zudem sehen sie sich in der Tradition von Charles Fort (1874–1932), dem Pionier auf dem Gebiet der Sammlung und Publikation unerklärlicher Phänomene. Fort allerdings stand in keiner bestimmten Tradition, er war sich selbst genug, und betrieb sein Sammeln von Phänomenen (aus Büchern und Zeitschriften, und immer mit Quellenangabe!) als seine ganz eigene Kunstform.

Charles Fort spekulierte schon 1919 über außerirdische „Besucher“, deren „Eigentum“ die Erde sei, und kann somit als ein Vorläufer der Prä-Astronautik und der Ufologie gelten. Zu beachten ist jedoch, dass Fort ausdrücklich betonte, nicht an seine Theorien zu glauben, die er ad hoc zur Erklärung der von ihm gesammelten Phänomene aufstellte.  (Wikipedia)

Das Genre der Prä-Astronautik beginnt also mit Fort – der sich selbst nicht ernst nahm, und das auch von seinen Lesern nicht erwartete – über Pauwels/Bergier, die einen eher spirituellen Ansatz hatten – sie nannten es „fantastischen Realismus“, der offenbar keine Beweise im klassischen Sinn erforderte – hin zu Erich von Däniken, der sich selbst total ernst nahm, der von „Beweisen“ sprach, und sein Wirken unbedingt als echte Wissenschaft verstanden haben wollte.

Donald E. Keyhoe: Der Ufologe

Eine weitere mögliche Vorlage v. Dänikens ist der bekannte Ufologe Donald E. Keyhoe, der, ebenfalls 1960, Mallerys Theorie in eben so kurzer Form darstellt: Dass die Piri-Reis-Karte auf eine Karte zurückgehe, die vor Tausenden von Jahren von Außerirdischen in einem Raumschiff erstellt worden sei, dass Kolumbus auf seiner ersten Reise eine Kopie dieser Karte gehabt habe und dass diese Karte die Küsten von Mittel- und Südamerikas bis zur Magellanstraße zeigte, sowie einen großen Teil der Antarktis.

Er schwang sich zu einem Schrank und holte eine Mappe heraus. „Das Hydrographische Amt der Navy hat eine uralte Karte – die sogenannte Piri-Reis-Karte – verifiziert, die mehr als 5.000 Jahre zurückreicht. Sie ist so genau, dass es nur eine Erklärung geben kann – eine weltweite Vermessung aus der Luft.“

Donald E. Keyhoe, Flying Saucers: Top Secret, 1960, 212-14.

Neuere Theorien (ohne Aliens)

Gavin Menzies: die Chinesen (2002)

Gavin Menzies ist ein pensionierter U-Boot-Kommandant der Royal Navy, der in seinem Weltbestseller 1421 – Als China die Welt entdeckte behauptet, die gewaltigen Dschunkenflotten der Ming-Dynastie unter Admiral Zheng He hätten nicht nur – wie historisch unstrittig ist – Südostasien und den indischen Ozean bis nach Ostafrika erforscht, sondern gleich auch, siebzig Jahre vor Kolumbus, die Welt umrundet, Amerika, Australien, Neuseeland und die Antarktis entdeckt und sogar die Nordostpassage, also das nördliche Polarmeer um Sibirien herum, durchquert.

Auch die Piri-Reis-Karte muss für seine Theorien herhalten; ihre Darstellung Südamerikas soll auf die Chinesen zurückgehen. Die chinesische Wissenschaft des Mittelalters war hoch entwickelt und ich traue ihnen einiges zu. Wenn es um die Würdigung dieser Fähigkeiten geht, ist Menzies allerdings ein denkbar schlechter Anwalt.

Die Kritik der Fachwelt war vernichtend. Einer schrieb, es gäbe in diesem Buch nicht eine Seite, auf der er nicht laut hätte loslachen müssen (Quelle finde ich nicht wieder). Tatsächlich habe ich mal stichprobenartig einigen Punkten hinterherrecherchiert und in praktisch jedem Fall haarsträubende Fehler und Verdrehungen gefunden.

Die Bücher von Hapgood, Menzies und von Däniken
Auch Crackpot-Literatur ist durchaus spannend zu lesen!

Fuat Sezgin: die Araber (2006)

Die Argumentation des Islamwissenschaftlers Fuat Sezgin (Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main) ist im Prinzip ähnlich wie die von Menzies: Spanier und Portugiesen seien um 1500 nicht fähig gewesen, so genaue Karten wie die des Piri Reis zu zeichnen, zudem sei die Küste Patagoniens ihnen zu der Zeit noch gar nicht bekannt gewesen; also müsse die Piri-Reis-Karte einer anderen, früheren Quelle entstammen. Im Gegensatz zu Menzies ist Sezgin allerdings ein anerkannter Wissenschaftler, dessen siebzehnbändige Geschichte des Arabischen Schrifttums als Standardwerk gilt.

Sein Lebenswerk ist dem Nachweis gewidmet, dass die arabisch-islamische Wissenschaft des Mittelalters bis heute in ihrer Qualität und Tragweite sowie in ihrem Einfluss auf den Westen massiv unterschätzt wird. Nicht zuletzt ihm haben wir es zu verdanken, dass große Genies wie z. B. al-Bīrūnī und al-Chwārizmī heute langsam wieder – verdientermaßen – ins Bewusstsein der westlichen Welt rücken. Diese seine Agenda legt aber auch nahe, dass er in seiner Arbeit nicht völlig unvoreingenommen ist, was auch hier und da sichtbar wird.

Auch Sezgin behauptet, Kolumbus sei nicht der erste gewesen. Er traut es den Arabern zu, schon viel früher Amerika erreicht zu haben. Aber auch er kann nur Indizien anführen.

Das Buch Die Karte des Piri Re’is: das vergessene Wissen der Araber und die Entdeckung Amerikas von Susanne Billig (2017) ist eine Würdigung der Arbeit Fuat Sezgins. Das Buch war letztlich der Auslöser für meine Recherchen und diesen Artikel. (Rezension)

Gregory C. Mclntosh: Nothing special

Bei meinen Recherchen stieß ich immer wieder auf den Historiker Gregory C. Mclntosh. Seine Schriften zur Piri-Reis-Karte sind erfrischend rational und ein wohltuendes Gegengewicht zu den ganzen zuweilen entnervenden Verwirrungen, die sich bei diesem Thema unweigerlich einstellen. Deshalb möchte ich ihm hier im Forscherkapitel das letzte Wort in Form einiger ausgewählter Zitate überlassen.

Es gibt sechs Aspekte der Erdkugel, die jeweils verzerrt oder erhalten werden können, wenn man sie auf eine flache Karte überträgt: Größen, Formen, Richtungen, Peilungen/Winkel, Entfernungen und Größenverhältnisse. Die Piri-Reis-Karte, so wie alle flachen Karten, ist nicht in allen diesen Aspekten akkurat. Tatsache ist, dass die Piri-Reis-Karte, so wie die meisten Renaissancekarten, alle diese Aspekte verzerrt.

Heute sehen wir Landkarten als hochwissenschaftliche Abbildungen, aber vor fünfhundert Jahren kombinierten Weltkarten tatsächliche Geografie mit theoretischer Geografie. Nur weil eine Renaissancekarte eine Küstenlinie zeigt, muss das nicht heißen, dass irgendjemand diese Küste gesehen und vermessen hätte. Viel häufiger enthielten ferne Länder auf frühen Karten anschauliche Beschreibungen und Visualisierungen, die auf schriftlichen Schilderungen, Ideen und Glaubensinhalten basierten.

Die Piri-Reis-Karte ist nicht mehr oder weniger akkurat als jede andere Karte ihrer Zeit.

Was die Grenzwissenschaft mit “akkurat” meint, ist: “Hey, das sieht voll ähnlich aus!”

Zitiert aus: Mark Adams: “Meet me in Atlantis”, Seite 225 (eigene Übersetzung)

McIntoshs Buch über die Piri-Reis-Karte aus dem Jahr 2000 ist für mich das Standardwerk, die erschöpfendste und ausführlichste Darstellung dieser Geschichte – und die rationalste – die man heute findet. (Literatur siehe unten)

3. Schlussfolgerungen

Wer war es denn nun?

Piri Reis selbst nennt ja die Portugiesen als Quelle für seine Darstellung Amerikas. Und es spricht alles dafür, dass diese Angabe einfach stimmt. Die Portugiesen sind von allen genannten Kandidaten die einzigen, die erwiesenermaßen dort gewesen sind! Und sie sind diese Küste runtergefahren, sie haben Aufzeichnungen gemacht, und wo immer es ging, auch Peilungen vorgenommen.

Fast alle hier genannten Autoren werden nicht müde zu betonen, dass die Europäer jener Zeit zu verlässlichen Ortsbestimmungen gar nicht fähig gewesen wären; dies ist eines der Hauptargumente, das sich durch die ganze Geschichte zieht. Immer wieder werden genüsslich Beispiele angeführt, wie eklatant etwa Kolumbus und Magellan teilweise danebenlagen. Leider werden die durchaus vorhandenen Gegenbeispiele dabei unterschlagen. So wiesen zum Beispiel die Messungen von Magellans Kosmografen,  Andrés de San Martín, durchaus eine große Schwankungsbreite auf – aber es waren eben auch „erstaunlich genaue“ Ergebnisse darunter. Die Portugiesen (gleiches gilt für die Spanier) waren also durchaus in der Lage, ihre Fahrten dem Wissensstand ihrer Zeit entsprechend zu dokumentieren.

Die Überlieferung ist da leider sehr lückenhaft: wer hat wo und wann einen Punkt vermessen, und mit welchen Ergebnis? Sind Aufzeichnungen aus jener Zeit erhalten? Das sind für mich die spannendsten Fragen, die sich hieraus ergeben, da würde ich gern nochmal genauer hinschauen.

Und der Süden der Karte?

Schließlich ist vor Magellan ja tatsächlich noch niemand dort gewesen. McIntosh weist auf zwei Dinge hin: einmal dass Küstenlinien auf Renaissance-Karten oft rein hypothetischer Natur sind, die auf damals populären Theorien gründen, zum Teil aber sogar auf antike Weltbilder zurückgehen, die bis in die frühe Neuzeit Bestand hatten, und erst im Zuge der Entdeckungsreisen nach und nach falsifiziert wurden. Zum Zweiten betont er, dass viele Forscher (z.B. Kahle und Hapgood) den Fehler gemacht hätten, die Piri-Reis-Karte mit heutigen Karten zu vergleichen. Viel aufschlussreicher sei es, sie im Kontext anderer Karten aus jener Zeit zu sehen. Und er stellt die Karte in eine Reihe mit weiteren Weltkarten aus der Zeit von 1500 bis ca. 1520 – und es sind nicht wenige!

Da zeigt sich unter anderem, dass der ominöse Südost-Schwung Südamerikas damals recht häufig verwendet wurde. Interessant ist auch, dass die Küste Südamerikas in etwa bis zum südlichsten Punkt, den die Portugiesen erreicht haben (Amerigo Vespucci in portugiesischem Auftrag), sehr detailliert und kleinteilig gezeichnet ist, und genau ab dem Punkt in eine wesentlich gröbere Darstellung übergeht; dort besteht die Küstenlinie fast ausschließlich aus einer Aneinanderreihung gleichartiger Buchten oder so – für mich sieht es nach einer generischen Darstellung aus, einem Platzhalter für „hier irgendwo verläuft eine Küste.“

Der südliche Teil der Piri-Reis-Karte
Südlich der Flussmündung wird die Darstellung eher vage.

Schon in der Antike wurde spekuliert, dass der bekannten Welt auf der Nordhalbkugel – der Oikumene – eine gleichartige Landmasse im Süden gegenüberliegen müsse, da sonst der Erdball nicht ausbalanciert wäre. Dieses hypothetische Land wurde Terra Australis genannt (manchmal mit dem Zusatz incognita). Zudem nahm man an, dass es mehr Land als Wasser auf der Erde gäbe – also nicht Kontinente wie Inseln in einem weltumspannenden Ozean, sondern die Meere als Binnenmeere in einer großen Landmasse.

Ptolemäus (2. Jahrhundert n. Chr.) machte diese Ansichten populär, und seine Geographia galt noch zu Piris Zeiten als maßgeblich!

Die ptolemäische Weltkarte
Die ptolemäische Weltkarte. (Bild: British Library, Public Domain)

Afrika bog also nach Südosten ab, und vereinigte sich über die Terra Australis mit Asien; der Indische Ozean war ein Binnenmeer. Durch die Umsegelung Afrikas 1497 hat Vasco da Gama dies eindrucksvoll widerlegt, aber gewohnte Weltbilder sind nur schwer auszurotten – und so wurde Afrika zwar fortan korrekt dargestellt, dafür aber wurde nun Amerika in der gleichen Weise mit der Terra Australis verbunden.

Hypothetische Länder waren noch länger Gegenstand von Weltkarten. So stellte etwa Gerhard Mercator, der als Begründer der wissenschaftlichen Kartografie gilt, noch 60 Jahre später in den Nordpolargebieten einen ganzen Kontinent und mystische Inseln als real dar.

Dies sind für mich die Thesen, die insgesamt mit den wenigsten Zusatzannahmen auskommen, denen also gemäß Ockhams Rasiermesser der Vorzug zu geben wäre.

 

Bronzebüste von Piri Reis

Eine sehr interessante Figur, die in dieser ganzen Geschichte immer ein wenig unterzugehen droht, ist für mich Piri Reis selbst. In den Begleittexten zu seiner Karte meint man seine Begeisterungsfähigkeit und seine Liebe zur Wissenschaft zu verspüren. Die Piri-Reis-Karte ist ein wundervolles Kunstwerk und eine „kulturelle Ikone“ (McIntosh) ihrer Zeit. Piri Reis führt hier die Erkenntnisse von Spaniern, Portugiesen, Italienern, Griechen, Türken und Arabern aus vielen Epochen der Menschheit zusammen. Dieses frühe Meisterwerk der Kartografie ist ein Vorbild für vorurteilsfreie interkulturelle Wissenschaft, an dem wir uns immer noch gern ein Beispiel nehmen dürfen.


Literatur

Paul Kahle
Die verschollene Kolumbuskarte von 1498 in einer türkischen Weltkarte von 1513
de Gruyter, Berlin/Leipzig 1933

Charles H. Hapgood
Die Weltkarten der alten Seefahrer
Die Entdeckung der Antarktis vor 6000 Jahren und Amerikas vor Kolumbus.
Zweitausendeins Verlag

Erich von Däniken
Erinnerungen an die Zukunft
Ungelöste Rätsel der Vergangenheit
Econ 1968

Gavin Menzies
1421
Als China die Welt entdeckte
Droemer Knaur 2002

Susanne Billig
Die Karte des Piri Re’is
Das vergessene Wissen der Araber und die Entdeckung Amerikas
C.H.Beck 2017

Gregory C. McIntosh
The Piri Reis Map of 1513
University of Georgia Press, 2000

Webartikel

Gregory C. McIntosh
Christoph Kolumbus und die Piri-Re’is-Karte von 1513
In: Cartographica Helvetica – Fachzeitschrift für Kartengeschichte
Band (Jahr): 11-12 (1995) Heft 11
Enthält die Übersetzung der Inschriften auf der Piri-Reis-Karte
http://doi.org/10.5169/seals-7383

Peter Mesenburg
Kartometrische Untersuchung und Rekonstruktion der Weltkarte des Piri Reis (1513)
Cartographica Helvetica : Fachzeitschrift für Kartengeschichte, 2001, Heft 24
https://doi.org/10.5169/seals-12587

Fuat Sezgin
Die Entdeckung des amerikanischen Kontinents durch muslimische Seefahrer vor Kolumbus
In: Geschichte des Arabischen Schrifttums. Band XIII (2006)
http://www.uni-frankfurt.de/59003140/Sezgin_deutsch.pdf

David C. Jolly
Was Antarctica Mapped by the Ancients?
The Skeptical Inquirer, Vol. 11, Fall 1986
https://cdn.centerforinquiry.org/wp-content/uploads/sites/29/1986/10/22165322/p34.pdf

 

Audio

Georgetown University Forum Recordings
#510 New and Old Discoveries in Antartica.
1956: Captain Arlington H. Mallery stellt seine Theorien vor.
Frage des Moderators: 08:10
„Airplanes“: ab 09:09
https://repository.library.georgetown.edu/handle/10822/1083795

WDR Zeitzeichen
9.10.1929: Fund der historischen Seekarte des Admirals Piri Reis
Sendung vom 9.10.2024
Enthält ein Interview mit mir ;-)
https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/zeitzeichen/zeitzeichen-fund-see-karte-piri-reis-100.html


Übersetzungen erstellt mit Hilfe von DeepL.com

2 Kommentare

  1. Glückwunsch zum Interview im WDR Zeitzeichen! Das Thema Außerirdische Astronauten ist damit definitiv vom Tisch. Doch wie lässt sich erklären, daß die Mündung des Rio de la Plata auf der Piri Reis Karte von 1513 erscheint, obwohl westliche Seefahre ihn erst drei Jahre später entdeckten?

  2. Hallo Christof, danke für die Glückwünsche und für deine Frage!

    Die Deutungen der einzelnen Landmarken an der Küste Südamerikas sind fast alle umstritten. Ich halte auch die Deutung jener Dreifach(!)-Flussmündung als Rio de la Plata für problematisch.

    Gregory C. McIntosh meint dazu:

    (…) Cananea, the name given by Vespucci to the furthest southern point he sailed, about 25° S, on his voyage for the Portuguese in 1501-2. This point is 800 miles north of the Rio de la Plata. This strongly suggests that the three-mouthed river in South America on the Piri Reis map, that Kahle and others have identified as the Rio de Plata, is not that river.

    One of the three mouths is, in fact, north of Cabo Frio, a cape easily identified on the Piri Reis map by its distinctive shape. There is no river on the east coast of South America with this three-mouthed configuration. This probably represents a conventional depiction of a large river that one might reasonably expect to be draining a large continental landmass.

    Außerdem weist er darauf hin, dass es irreführend sein kann, Karten aus jener Zeit mit heutigen Karten zu vergleichen. Was z.B. die Flussmündungen angeht, sei es sinnvoller, zu schauen, welche Flüsse überhaupt zu Piri Reis‘ Zeiten in der Region kartografisch erfasst waren.

    Kahle and Hapgood rather naively equated the rivers and estuaries on the Piri Reis map with some they found on modern maps, without due consideration of which rivers were being depicted on maps contemporary with Piri Reis. This led to some conclusions which are probably incorrect (…)

    Wie gesagt: da wird es sehr schnell sehr komplex ;) Mir persönlich reicht es, zu wissen, dass keine Deutung zweifelsfrei erwiesen ist. So ist die Annahme, es wären auf der Karte noch unentdeckte Regionen dargestellt, ebenfalls nur Spekulation. Ich bin wie gesagt der Ansicht, dass die Küste, speziell nach Süden hin, eher hypothetische Geographie ist, die evtl. noch auf das antike Konzept von der Terra Australis zurückgeht.

    Grüße, Dampier / Tobias

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