Ptolemäus und wie er die Welt beschrieb

Waldseemüller-Vignetten

Ich entschloss mich, nicht nur einmal eine lange Reise zu unternehmen, mit dem Schiff oder auf dem Pferd oder zu Fuß, sondern viele Male, auf einer kleinen Karte, mit Büchern und der Vorstellungskraft.

Petrarca, ca. 1340

Die Beschreibung unseres Planeten; das Zeitalter der Entdeckungsreisen. Warum ist gerade diese Epoche so spannend? Weil sie absolut einmalig ist – und zwar nicht nur im Rahmen der Wissenschaftsgeschichte der menschlichen Zivilisation, sondern im gesamt-evolutionären, ja sogar im planetaren Maßstab!

Wenn auf einem Planeten eine intelligente Spezies entsteht, mag es Jahrmillionen dauern, bis Intelligenzzuwachs, Reproduktionsrate und evolutionär bedingte Neugier irgendwann dazu führen, dass diese Spezies sich ausbreitet und beginnt, sich Gedanken zu machen, wo sie überhaupt lebt. Irgendwann schwant ihr, dass ihre Welt, die als endlose Fläche erschien, tatsächlich eine Kugel ist, und als solche in ihrer Gesamtheit beschreibbar. Und diese Beschreibung der Welt würde irgendwann abgeschlossen sein, der Planet würde umrundet und vollständig erforscht werden, bis es keine unbekannten Weltgegenden mehr gibt.

Diese entscheidende Epoche der Entdeckung des Heimatplaneten, diese kurze, steile Lernkurve, tritt im Laufe der Existenz einer intelligenten Spezies genau einmal auf, ein entscheidender Augenblick von wenigen Generationen in einem Millionen Jahre währenden Lebenslauf.

Heute möchte ich von dem Meisterwerk eines Gelehrten erzählen, der das Weltwissen seiner Spezies erstmals in einem konsistenten System zusammenfasste. Damit schuf er eine mathematische Grundlage für die Beschreibung der Welt, die bis heute Gültigkeit hat: die Geographia des Claudius Ptolemäus.

Ptolemäus auf einer Vignette der Waldseemüller-Karte
Ptolemäus auf einer Vignette der Waldseemüller-Karte

 

Der erste Kartograph

Ptolemäus lebte und wirkte im 2. Jahrhundert in Alexandria. Es war die Zeit der größten Ausdehnung und Machtfülle des Römischen Reiches. Die griechische Antike, und mit ihr die ersten Versuche einer mathematischen Geographie, lagen schon einige Jahrhunderte zurück. Vieles war zwar überliefert, wurde aber von den Römern, die ja eher gute Ingenieure als Wissenschaftler waren, kaum mehr verstanden.

Der Äquator und die neunzig Breitengrade bis zum Pol waren schon definiert. Man konzentrierte sich damals auf die Nordhalbkugel, auf der die bewohnbare Welt – die Oikumene – verortet wurde. Die Länder um den Äquator galten als unbewohnbar wegen der starken Sonneneinstrahlung. Ein Südkontinent, Heimat der Antipoden, war allenfalls Gegenstand von vagen Spekulationen.

Schon vor Ptolemäus wurde die Welt beschrieben. Doch war dies meist Stückwerk, basierend auf den Berichten von Reisenden – Händlern, Seefahrern, Pilgern, Feldherren. Alexander der Große hatte auf seinen Feldzügen, die ihn bekanntlich bis Indien führten, immer seine Schrittzähler (Bematisten) dabei, die alle zurückgelegten Strecken dokumentierten. Pomponius Mela unternahm um das Jahr 100 einen ersten Versuch, all dieses Wissen zusammenzufassen. Seine Schrift De chorographia war eine ausführliche, aber eher anekdotische Beschreibung der bekannten Welt.

Ptolemäus bediente sich dieser Quellen, bezeichnete aber diese Art der Erdkunde als „Klatsch und Tratsch über diesen und jenen Ort“. Er strebte einen wissenschaftlichen Ansatz an, er erkannte, dass nur eine Geographie, die auf Mathematik und Astronomie beruhte, allgemeingültige und reproduzierbare Aussagen über die Form unserer Welt erlaubte.

Sein Hauptwerk (er schrieb auf griechisch) benannte er Geographike Hyphegesis, und dies sagt viel über seinen Ansatz aus, denn es bedeutet „Anleitung zur Geographie“. Er beschränkte sich nicht auf eine Beschreibung der seinerzeit bekannten Welt, er schuf etwas viel weitreichenderes: ein allgemeingültiges Werkzeug zur Zeichnung einer Weltkarte.

Er ersann ein weltumspannendes Koordinatensystem. Die Einteilung in Breitengrade war schon bekannt, die geographische Breite eines Ortes ließ sich mithilfe des Polarsterns oder des Sonnenstandes relativ einfach ermitteln. Mit den Längengraden war es schon komplizierter. Aufgrund des Sonnenumlaufs in Ost-West-Richtung – die Idee der Erddrehung hatte sich noch nicht durchgesetzt – ließen sich diese nur durch exakte Zeitmessungen (synchron an verschiedenen Orten) bestimmen, was in der Antike mangels genauer Uhren nahezu ein Ding der Unmöglichkeit war.

Überhaupt waren die Daten, mit denen er damals arbeiten musste, naturgemäß wahnsinnig ungenau. Entfernungen wurden in Tagesreisen angegeben, und sie folgten dem Straßenverlauf und nicht der Luftlinie. Die Maßeinheiten waren Ellen und Stadien, die aber regional und zeitlich stark voneinander abwichen.

Zwar waren im Römischen Reich zu jener Zeit schon Landvermesser unterwegs, doch es ist unklar, ob Ptolemäus Zugriff auf diese Daten hatte, denn sie wurden im Auftrag der Armee erhoben und waren somit von großer strategischer Bedeutung.

Ptolemäus zog seine Meridiane in Intervallen von 15 Grad, so dass ein Meridian der Entfernung, die die Sonne in einer Stunde zurücklegt, entsprach. Der Nullmeridian konnte nur willkürlich festgelegt werden, er ergab sich nicht von selbst, so wie der Äquator und die Pole. Ptolemäus legte ihn ans westlichste Ende der Oikumene, bei den Kanarischen Inseln. Das ergibt Sinn, weil dann die Null unten links sitzt und alle Koordinaten der bekannten Welt positive Werte aufweisen.

Aufgrund des Längengradproblems ist es nicht verwunderlich, dass Ptolemäus’ Koordinaten in Ost-West-Richtung wesentlich ungenauer waren als in Nord-Süd-Richtung. Das führte dazu, dass er die Ost-West-Ausdehnung Eurasiens um rund 40 Prozent überschätzte.

Die Ptolemäische Weltkarte. Die Verzerrung in Ost-West-Richtung ist an Großbritannien, Dänemark und Italien gut zu erkennen. (Bild: British Library, Public Domain)

 

Um die 360 Grad der Erdkugel in korrekte Entferungsangaben umrechnen zu können, musste natürlich der Erdumfang bekannt sein. Nun hatte Eratosthenes bereits vierhundert Jahre zuvor eine überraschend genaue Berechnung geliefert. Allerdings legte Ptolemäus die Berechnung des Poseidonios (-1. Jh.) zugrunde – vielleicht, weil es die aktuellere Schätzung war. Dieser Wert lag aber 5-6 % unter dem des Eratosthenes (und noch weiter unter dem heutigen) und trug weiter zur Ungenauigkeit bei. (Kolumbus hat’s gefreut, dazu später mehr.)

Ptolemäus’ Daten waren also bei weitem nicht fehlerfrei, aber sein System war in sich schlüssig und funktioniert im Prinzip bis heute. Ptolemäus selbst wies darauf hin, dass die Weltkarte fortwährend verbessert und durch neue Erkenntnisse aktualisiert werden müsse. Die Erfassung der Welt sah er als „immerwährendes kooperatives Unternehmen“ (Lester), für das er nur den Grundstein gelegt hatte. Er soll sogar in den Tabellen seiner Originalausgabe eine leere Spalte eingefügt haben, um Korrekturen und Erweiterungen zu erleichtern.

Ein weiterer wichtiger Punkt war ihm die realistische Abbildung der Länder in möglichst korrekten Proportionen. Ptolemäus machte sich erstmals Gedanken darüber, wie man die Geodaten der Erdkugel möglichst verzerrungsfrei auf eine plane Karte bringt. Für kleinere, regionale Landkarten war es kein Problem, das Koordinatensystem einfach als rechtwinkliges Gitter anzulegen, aber bei einer Weltkarte würde dies zu massiven Verzerrungen der Abbildung nach Norden hin führen. Und so ersann er die ersten Methoden der Kartenprojektion. Sie sollten erst in der Neuzeit (durch Mercator und andere) entscheidend verbessert werden.

Der erste Atlas

Nachdem er die theoretischen Grundlagen seines Systems festgelegt hatte, ging Ptolemäus nun in die vollen: aus antiken Quellen, zeitgenössischen Berichten und regionalen Landkarten hatte er Rohdaten gesammelt und klassifiziert (er hatte immerhin die Bibliothek von Alexandria zur Verfügung!). Im Hauptteil seiner Geographia listet er fast 8000 Ortsangaben mit ihren Koordinaten auf: Provinzen, Städte, Häfen, Inseln, Flussmündungen, Berge und Kaps.

Die von ihm erfasste Welt reichte im Norden bis zur Insel Thule (Wahrscheinlich eine Insel vor Trondheim), im Südosten bis zur Insel Taprobane, die meist mit Ceylon, manchmal auch mit Sumatra identifiziert wird. Im äußersten Osten findet sich der Ort Sera Metropolis, das entspricht dem heutigen Xi’an in China, dem östlichen Ende der Seidenstraße, welches für seine Terrakotta-Armee bekannt ist (die zu Ptolemäus’ Zeiten schon seit fast vierhundert Jahren unter der Erde war).

Auch Germania Magna ist ausführlich erfasst, da zoomen wir später nochmal rein.

Es sind keine antiken Kopien der Geographia erhalten, und bis heute ist unklar, ob das ursprüngliche Werk auch Karten enthielt. Möglicherweise hat Ptolemäus sich darauf beschränkt, das Handwerkszeug und das Datenmaterial zu liefern, und die Kartenzeichnung anderen zu überlassen. Die frühesten bekannten Ausgaben mit Karten, die im späten Mittelalter erschienen, gelten als die ersten klassischen Atlanten.

Vergessen

Nur wenige Generationen nach Ptolemäus, um 300, begann der Niedergang des Römischen Reiches. Das Christentum kam auf, und mit ihm die Verdammung allen „heidnischen“ Wissens. Die Tragik dieser Epoche lässt sich in dem exzellenten Wikipedia-Artikel Bücherverluste in der Spätantike sehr gut nachvollziehen, so dass ich hier nicht weiter ins Detail gehe.

Viele große Werke der Antike verschwanden für immer aus dem Wissensschatz des Menschen, auch die Geographia hätte um ein Haar dieses Schicksal ereilt. Nur einige vage Hinweise aus anderen Werken ließen darauf schließen, dass irgendwo ein wissenschaftlicher Schatz schlummern musste. Es sollte aber noch fast tausend Jahre dauern, bis dieser erneut ans Licht kam.

 

Schematische Darstellung einer typischen Radkarte.
Schematische Darstellung einer typischen Radkarte. (Bild: Wikipedia/Meyers Konversationslexikon, Gemeinfrei)

Der Rückschritt in der Geographie war niederschmetternd. Die Weltkarten des Mittelalters waren von deprimierender Schlichtheit. Die sogenannten Radkarten oder auch TO-Karten zeigten eine stark idealisierte Welt, in der oft nur das irdische Paradies und Jerusalem verortet waren. Zwar gab es auch große und detaillierte Mappae Mundi, durchaus schön anzusehen und mit Liebe zum Detail gemacht, wie z. B. die Ebstorfer Weltkarte, aber sie hatten nur wenig mit der Wirklichkeit zu tun. Letztlich waren es geistliche Karten ohne jeden wissenschaftlichen Anspruch.

Tatsächlich erreichte die Kartographie erst wieder annähernd wissenschaftliches Niveau, als das Werk des Ptolemäus in der Renaissance wiederentdeckt wurde, und in seiner zeitlosen Gültigkeit erneut als Basis für eine realistische Darstellung der Welt dienen konnte.

Planudes und Chrysoloras – Der Flaschenhals der Überlieferung

Im Jahre 1300 muss der byzantinische Mönch Maximos Planudes auf Hinweise gestoßen sein, die das verschollene Werk des Ptolemäus erwähnten, denn fortan suchte er wie besessen nach einer Kopie der Geographia. Und er fand eine! Wahrscheinlich war es nur eine Textausgabe, und Planudes zeichnete die Weltkarten selbst, nach den Daten des Ptolemäus. Einige Ausgaben, die auf Planudes zurückgehen, zirkulierten fortan in Konstantinopel, doch es sollte noch einmal fast hundert Jahre dauern, bevor die Geographia im Abendland ankam, und die moderne Kartografie mitbegründete.

Rom und Konstantinopel hatten sich seit der Teilung des Römischen Reiches im 5. Jahrhundert immer weiter voneinander entfremdet, sie hatten sich buchstäblich nichts mehr zu sagen. Eine Sprachbarriere hatte sich aufgetan, denn die Italiener verlernten das Griechische, welches seit der Antike die Lingua Franca speziell der Gelehrten gewesen war, und die Griechen sprachen kein Latein mehr. So kam der kulturelle Austausch praktisch zum Erliegen.

Erst als Konstantinopel im 14. Jahrhundert von den Osmanen belagert wurde, besannen sich die Byzantiner auf ihre christlichen Glaubensbrüder und schickten Emissäre nach Rom, die um Beistand bitten sollten. Sie hatten keinen Erfolg und mussten unverrichteter Dinge heimkehren; einer von ihnen hatte jedoch einen bleibenden Eindruck bei den italienischen Frühhumanisten hinterlassen: der Gelehrte Manuel Chrysoloras.

Die frühen Humanisten hatten begonnen, die antiken lateinischen Texte wiederzuentdecken, die Suche nach alten Manuskripten wurde zu einer ehrenvollen Tätigkeit, der sich viele verschrieben. Bald stellten sie fest, dass viele alte römische Autoren sich auf griechische Vorbilder beriefen, doch da niemand mehr Griechisch beherrschte, blieb ihnen dieser Wissenschatz der Antike verwehrt, solange sie die Originale nicht lesen konnten.

Chrysoloras hatte während seines Aufenthalts in Italien einigen Gelehrten ein wenig Griechischunterricht erteilt. Dies machte bald die Runde, und der Humanist Coluccio Salutati, seinerzeit Kanzler von Florenz, beschloss, Chrysoloras als Griechischlehrer in die Hauptstadt des Frühhumanismus zu holen. Dieser ließ sich nicht lange bitten, die Lage im belagerten Konstantinopel wurde zunehmend unerträglich, und so machte er sich erneut auf nach Italien. Im Gepäck hatte er auch eine Ausgabe der Geographia.

Renaissance

Bald gab es eine erste lateinische Übersetzung. Die Humanisten waren elektrisiert. Nach den ganzen verschwurbelten, klaustrophobischen Weltdarstellungen des Mittelalters hatten sie hier auf einmal eine klare, realistische Abbildung der Welt, geschaffen nach einem nachvollziehbaren mathematischen System, das man jederzeit erweitern und an neue Erkenntnisse anpassen konnte.

Diese Idee – dass man die Welt von oben sehen müsse und der menschliche Verstand mit Hilfe der Mathematik das göttliche Maß der Welt begreifen könne – war das große Geschenk des Ptolemäus an die Künstler und Denker der italienischen Renaissance. Für manche Florentiner (…) wurde die Geographia geradezu ein Symbol für das ganze humanistische Unternehmen.
(Lester, S. 194)

Die frühen Humanisten waren auf die Antike fixiert. Sie setzten die Geographia ausschließlich in Bezug zur antiken Welt, um diese möglichst exakt zu rekonstruieren. Dabei übernahmen sie die fehlerhaften Daten des Ptolemäus, obwohl es seit langem neuere Erkenntnisse gab. Europäische Entdecker waren weit nach Asien vorgedrungen, Marco Polo hatte im 13. Jahrhundert in Südostasien Länder erreicht, von denen aus er den Polarstern nicht mehr sehen konnte. Er hatte also den Äquator überquert, ohne zu verbrennen, und er hatte bewohnte Länder vorgefunden.

Wir wissen sehr wohl, dass Ptolemäus vieles nicht wusste.
Flavio Biondo, 1453

In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts begannen die Kartographen, Ptolemäus kritischer zu rezipieren und seine Daten mit aktuellen Erkenntnissen zu erweitern. Es erschienen alle möglichen Mischformen aus Mappae Mundi und Ptolemäischen Karten, angereichert mit neuen Erkenntnissen, vor allem über Asien und Afrika, an dessen Westküste sich die Portugiesen weiter und weiter nach Süden vorarbeiteten. Dieses Portugiesische Unterfangen wurde von den Humanisten aufmerksam verfolgt. Schon Herodot (-5. Jh.) schilderte eine Umsegelung Afrikas. Ausgerechnet Ptolemäus jedoch stellte Afrika im Süden mit Asien verbunden dar, der Indische Ozean war bei ihm also ein Binnenmeer.

Langsam setzte sich die Erkenntnis durch, dass das kartographische System des Ptolemäus sein eigentliches Vermächtnis war, weitaus wertvoller und zukunftsweisender als seine ersten Karten.

America

Das Zeitalter der Entdeckungen hatte seinen ersten Höhepunkt um das Jahr 1500. Innerhalb weniger Jahre wurden in schneller Abfolge bahnbrechende Reisen unternommen. 1487 umrundete Bartolomeu Dias als erster das Kap der guten Hoffnung. 1492 erreichte Christoph Kolumbus einige Inseln im Westen, die man damals für das östliche Ende Asiens hielt. Kolumbus’ viel zu geringe Schätzung des Erdumfangs, die auch auf einem ptolemäischen Atlas basierte – und die ihm half, seine Expeditionspläne am spanischen Hof durchzusetzen – schien damit bestätigt. 1497 gelang es Vasco da Gama, um Afrika herum tatsächlich Indien zur See zu erreichen.

ab 1500 erforschte ein Seefahrer erstmals die Ostküste Südamerikas bis weit nach Süden: Amerigo Vespucci. Er war der erste, der die Überzeugung äußerte, es hier nicht mit Asien zu tun zu haben, sondern mit einem ganzen unbekannten Kontinent. Er sprach als erster von einer Neuen Welt.

Amerigo Vespucci auf einer Vignette der Waldseemüller-Karte
Amerigo Vespucci auf einer Vignette der Waldseemüller-Karte

Die Reiseberichte Vespuccis zirkulierten bald in ganz Europa unter den Gelehrten, und versetzten sie in helle Aufregung – weit mehr als die paar Inseln, die Kolumbus entdeckt hatte. Vespuccis Berichte waren in Briefform abgefasst, offenbar nachträglich aufgeschrieben und deshalb ziemlich ungenau. Heute wird die Echtheit einiger seiner Berichte komplett in Frage gestellt, die Quellenlage ist also wesentlich dürftiger als z. B. bei Kolumbus. Doch zu Lebzeiten galt Vespucci vielen als der größte Entdecker seiner Zeit.

Schlag auf Schlag kamen nun neue Erkenntnisse herein, und die Kartographen hatten alle Hände voll zu tun, diese in das sich immer schneller wandelnde Bild der Welt zu integrieren. Die Weltkarten mussten nach Westen und Süden erweitert werden, die neuen Inseln und Länder wurden am westlichen Rand zumindest angedeutet – oft noch zusammen mit imaginären Atlantikinseln aus alten Überlieferungen.

Die berühmteste Weltkarte aus jener Zeit war die Waldseemüller-Karte von 1507. Die Darstellung der alten Welt basierte weitgehend auf Ptolemäus, doch hier wurde zum ersten Mal die Neue Welt als eigener Kontinent an der richtigen Stelle abgebildet – und mit dem Namen ihres vermeintlichen Entdeckers bezeichnet: America.

Die Herstellung dieser Karte und die Erfindung des Namens Amerika durch Martin Waldseemüller und Matthias Ringmann in einem kleinen elsässischen Dorf ist ein besonders spannendes Stück Wissenschaftsgeschichte, das einen eigenen ausführlichen Artikel verdient hätte. Hier soll diese Episode nun als Endpunkt unserer Reise durch die Kartographie dienen, der auf besonders augenfällige Weise den endgültigen Beginn der Neuzeit markiert.

Es fehlte nur noch wenig zum vollständigen Bild. Magellan umrundete als erster Amerika und überquerte den Pazifik, bis er in Asien wieder bekannte Länder erreichte. Australien wurde erst relativ spät entdeckt (unter anderem durch William Dampier). Spätestens seit der Sichtung der (lange vermuteten) Antarktis um 1820 ist die Beschreibung unseres Planeten abgeschlossen. In der Geographie wird es keine überraschenden Endeckungen mehr geben. Auch das ist ein Vermächtnis von Claudius Ptolemäus.

Epilog: Ptolemäus heute

Die Geographia ist bis heute Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Immerhin bietet sie mit ihren Datensätzen eine unschätzbare Momentaufnahme des Weltwissens der Antike.

Zoomen wir rein nach Europa. Ptolemäus unterschied Germania Magna, Germania Inferior, Germania Superior, Gallia Belgica …

Viele der von ihm aufgelisteten Orte lassen sich heute nur noch schwer zuordnen. In der Zwischenzeit hatte die Völkerwanderung stattgefunden, ganze Völker und ihre Sprachen verschoben sich und durchmischten sich neu. Außerhalb des römischen Reiches gab es praktisch keine Kontinuität in der Besiedelung Europas.

Anhand der heute noch bekannten Orte lassen sich die Abweichungen in den Koordinaten des Ptolemäus genauer bestimmen. Könnte man diese Verzerrungen herausrechnen, so könnte man wertvolle Hinweise auf längst versunkene Orte erhalten, und so z.B. potenziell interessante archäologische Stätten ausmachen.

Eine interdisziplinäre Forschungsgruppe an der TU Berlin unter Leitung von Dieter Lelgemann befasst sich seit 2003 mit diesen Verzerrungsanalysen. Der Schwerpunkt liegt hier auf Germania Magna, also dem heutigen Deutschland bzw. Mitteleuropa. Ptolemäus hatte alte Itinerarien und kleinere Landkarten als Quellen verwendet. Diese waren in sich einigermaßen schlüssig, aber bei der Zusammenführung dieser Datensätze musste es zwangsläufig zu Ungenauigkeiten kommen. Ziel war nun, diese „Transformationseinheiten“ zu identifizieren und mit verschiedenen Methoden zu entzerren.

Hier ein Beispiel für die Vorgehensweise:

Probeweise haben wir eine Entzerrung mit dem Referenzpunkt Athen und einem einheitlichen Maßstabsfaktor α = 500/700 für die gesamte Oikumene durchgeführt. Dies ist kein zufälliger Wert, sondern das Verhältnis des von Ptolemaios angenommenen Erdumfangs zu dem von Erathostenes gemessenen Erdumfang. Bereits diese einfache Entzerrung führte zu einer durchaus akzeptablen Karte vom Atlantik bis nach China sowie von Thule (…) bis nach Meroe im Sudan.

SdW Dossier 4/2006, S. 20

Für mehr Details zu diesen Forschungen sei das Buch „Germania und die Insel Thule“ empfohlen, welches die Forschungsgruppe 2011 herausbrachte. Hier sind die Methoden genauer erklärt und sämtliche Orte in Germania Magna mit älteren Deutungsversuchen und den neu bestimmten Koordinaten aufgeführt.

Diese Neuberechnung der Koordinaten wurde nicht immer begrüßt. Beispielsweise wurde das Ptolemäische Leuphana immer mit Lüneburg identifiziert. Nun stellte sich heraus, dass es höchstwahrscheinlich bei Hitzacker an der Elbe lag, wo es auch tatsächlich eine archäologische Stätte aus jener Zeit gibt.

An der Leuphana-Universität zu Lüneburg soll man nicht so begeistert gewesen sein …

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Literatur

Toby Lester
Der vierte Kontinent
Berlin Verlag 2010
ISBN 978-3827007322

Andreas Kleineberg, Christian Marx, Eberhard Knobloch, Dieter Lelgemann
Germania und die Insel Thule.
Die Entschlüsselung von Ptolemaios’ “Atlas der Oikumene”

Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2010
ISBN 978-3-534-23757-9

Andreas Kleineberg, Eberhard Knobloch und Dieter Lelgemann
Die Weltkarte des Klaudios Ptolemaios – geodätisch entzerrt
Spektrum der Wissenschaft Dossier 4/2006 „Astronomie vor Galilei“, S. 16

Stefan Zweig
Amerigo: Die Geschichte eines historischen Irrtums
Fischer Taschenbuch
ISBN 978-359629241


Dieser Artikel war mein Beitrag zum ScienceBlogs Blog-Schreibwettbewerb 2016. (leicht überarbeitet)

2 Kommentare

  1. Hey, ein eigener Blog. Hab ihn grad über ein Trackback bei Astrodicticum Simplex gefunden. Viel Freude damit, und nicht vergessen die Beiträge zu Verschlagworten, damit sie auch von anderswo gefunden werden können.

  2. @stone1
    Willkommen auf meiner Blog-Baustelle :) Da hab ich wohl aus Versehen einen Trackback ausgelöst.
    Bisher bastel ich hier noch rum, und stell grad meine Wettbewerbsartikel hier ein. Neue Artikel sollen aber bald folgen … Ich werde das dann auf Scienceblogs irgendwann “offiziell” ankündigen …
    grz
    Dampier

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