Jahrelang hab ich so gut wie keine Zeitschriften mehr gelesen. Das Internet gab genug her, und ein Budget für Abos hab ich mir nicht gegönnt. Ich hab höchstens mal ein Sonderheft gekauft, wenn es um ein Lieblingsthema ging.
Wer an Wissenschaft interessiert ist, kommt auch online an Spektrum natürlich nicht vorbei. Und dort wurde ich irgendwann auf eine Zeitschrift aufmerksam, von der ich sofort wusste, dass ich von ihr nichts verpassen will. So abonnierte ich 2017 Spektrum Spezial Archäologie-Geschichte-Kultur.
Schon der sperrige und präzise Titel gefiel mir. Und ich habe diese Zeitschrift wirklich geliebt. Jede Ausgabe hatte ein Schwerpunktthema, und die Artikel waren von Wissenschaftlern geschrieben, die häufig sogar über ihre eigene Arbeit berichteten. Erst später erfuhr ich, dass dies eine ehrwürdige Tradition bei Spektrum ist, die auf ihre US-Originalausgabe Scientific American zurückgeht.
Jedes Heft war ausführlich und gehaltvoll wie ein mittleres Sachbuch. Die vierteljährliche Erscheinungsweise gab mir genug Zeit, es in Ruhe – und immer ganz – zu lesen. Man erfuhr von den neuesten Erkenntnissen aus erster Hand. Vor allem die neuen und ständig verbesserten Methoden der Archäometrie hatten es mir angetan: In Ausgabe 4/2018, Die Geschichte der Migration, erfährt man alles über die Anwendung von Paläo-DNA, Isotopenanalyse und linguistischen Methoden zur Rekonstruktion von Wanderungs- bewegungen in der Frühzeit der Menschheit. Dazu gab es lesenswerte Essays über die Migrationsdiskussionen unserer Zeit. In 3/2019, Gold, las ich – neben spannenden Schatzgeschichten – über die Archäometallurgie, die es ermöglicht, die geografische Herkunft von Metallen zu bestimmen, und so uralte Handelswege zu rekonstruieren. So bot jedes Heft einen eigenen, faszinierenden Kosmos an neuen Geschichten aus der Wissenschaft.
Betreut wurde die Heftreihe vom „Koordinator Archäologie/Geschichte“ Klaus-Dieter Linsmeier, seit 1994 Redakteur bei Spektrum der Wissenschaft. Das Magazin hatte schon mehrere Wandlungen durchgemacht: von Abenteuer Archäologie (2004) über epoc (2007) zu Spektrum Spezial Archäologie-Geschichte-Kultur (2013). Als er im Editorial der Ausgabe 4/2019 eine erneute Wandlung ankündigte, machte ich mir ein wenig Sorgen, was wohl aus meiner Lieblingszeitschrift würde.
Das neue Heft
Der neue Name ist allgemeiner gefasst: Spektrum Geschichte. Kein Hinweis auf Archäologie mehr. Ich hatte schonmal für eine Weile eine reine Geschichtszeitschrift abonniert, die DAMALS. Da waren einfach zu viele Themen dabei, die mich nicht interessiert haben (Zeitgeschichte, die Weltkriege, das Hin und Her irgendwelcher Königs- und Fürstenhäuser …). Da blieb vieles ungelesen und ich habe das Abo nicht verlängert. Zum Glück bezieht sich Chefredakteur Daniel Lingenhöhl (bekannt für viele gute Artikel auf Spektrum.de) im Editorial explizit auf „aktuelle Forschung aus Archäologie und Geschichte“, so besteht also Hoffnung, dass der Themenschwerpunkt erhalten bleibt.
Als erstes fällt das geänderte Format auf. Mit 175 × 255 mm ist das neue Heft ungewöhnlich klein. Mir gefällt das gut, es ist handlicher für unterwegs oder beim Lesen im Bett. Für schöne Fotos ist es immer noch groß genug.
Das Titelbild kommt erstaunlich düster daher, es erscheint mir ganz schön mutig, bei der Erstausgabe solch ein Motiv zu wählen. Ich persönlich finde es grafisch sehr gelungen in seiner Schlichtheit, mit einem Foto im Vollformat, ohne Balken oder Störer, sehr elegant.
Inhalt
Beim ersten Themenschwerpunkt setzen die Macher auf die populärsten Themen der Archäologie in Deutschland. Fast alles kennt man aus TV-Dokus und populärwissenschaftlichen Internetartikeln: die Ulfberht-Schwerter, die Varusschlacht, die Schlacht vom Tollensetal. Die Himmelsscheibe von Nebra mit ihren Begleitfunden eröffnet die neue Rubrik Glanzstücke, eine Fotostrecke mit deutschen Museumsexponaten.
Man könnte sagen, die Redaktion geht hier auf Nummer sicher, aber das sehe ich nicht als Nachteil. Auch zu bekannten Themen lese ich gern neue Artikel. Oft erinnert man ja nur Bruchstücke von hier und da, da kann eine gut gemachte aktuelle Übersicht ein Gewinn sein, zumal wenn sie in gedruckter Form vorliegt und somit als Referenz im Regal dienen kann. Die Artikel sind – wie bisher – erfreulich seriös geschrieben, ohne jeden Hang zur Sensationsmache, was zum Beispiel bei der Schlacht vom Tollensetal positiv auffällt, die ja meistens furchtbar reißerisch auf ihre brutalen Details reduziert wird. Ein Highlight ist der Artikel über die Rekonstruktion der verkohlten Schriftrollen von Herculaneum. Es wird ja schon lange daran geforscht, wie man die fragilen Artefakte wieder lesbar machen kann, hier werden die neuesten technologischen Ansätze vorgestellt. Ein spannendes Thema.
In der neuen Rubrik Zeitsprünge, die in Kürze die Historie alltäglicher Dinge erzählt (hier: die Geschichte des Essengehens), trifft man auf zwei alte Bekannte: Richard und Daniel vom Zeitsprung-Podcast. Glückwunsch! Ich freue mich immer, wenn die Arbeit von Bloggern oder Podcastern, die aus reiner Leidenschaft begonnen haben, durch solcherart Aufträge honoriert wird :)
Layout
Es wurden nicht nur die Seiten verkleinert, gleichzeitig wurde eine größere Schrift gewählt. Das macht sich beim Gesamtumfang deutlich bemerkbar, statt bisher mehr als einem Dutzend Artikeln enthält dieses Heft – bei gleicher Seitenzahl von 82 – derer sechs (dazu Kurznachrichten und die Rubriken). Dafür erscheint es jetzt sechsmal statt viermal im Jahr, der Textumfang mag also übers Jahr gerechnet etwa gleichbleiben. Doch das Heft ist recht schnell durchgelesen, damit macht es subjektiv einen oberflächlicheren und weniger fundierten Eindruck als das alte Magazin.
Links das alte Magazin, rechts das neue mit größerer Schrift und schmaleren Spalten.
Die Lesbarkeit finde ich nicht optimal, da hat mir das dezente serifenlose Schriftbild der alten Ausgaben deutlich besser gefallen. Die beiden neu verwendeten Serifenschriften „beißen“ sich etwas. Der Font für Titel/Zwischentitel und der zweite für Vorspann und Fließtext harmonieren optisch nicht gut miteinander. Der Vorspanntext ist mir viel zu fett; die Titelschrift finde ich eher unspannend, sie sieht mir der öden Times zu ähnlich. Die Bildunterschriften unterscheiden sich für meinen Geschmack zu wenig vom Fließtext, hier hätte vielleicht noch eine deutlichere Unterscheidung gutgetan, z. B. mit einer Kursiven. Soviel zur Form; bei einem Wissenschaftsmagazin zählt natürlich der Inhalt.
Bruch mit der Tradition
Wirklich besorgniserregend finde ich die Abkehr von der jahrzehntealten Tradition, die bisher als Alleinstellungsmerkmal der Spektrum-Magazine galt: dass die Artikel von Wissenschaftlern geschrieben werden. Die Autoren der neuen Ausgabe sind durchweg Wissenschaftsjournalisten, aus der Redaktion oder freiberuflich. Manche sind zwar auch studierte Historiker oder Archäologen, aber sie schreiben nicht in ihrer Eigenschaft als aktive Forscher, sondern als Journalisten. Somit ist alles, was man zu lesen bekommt, Sekundärliteratur, aufbereitetes Wissen aus zweiter Hand.
Das macht für mich einen riesigen Unterschied in der Rezeption. Bisher war man sozusagen bei der Forschung mitten dabei, jetzt bekommt man nur noch erzählt, was die Wissenschaftler so machen. Auch die Quellenangaben wurden abgeschafft. Für mich ist das enttäuschend, zumal wenn das ein Hinweis auf einen allgemeinen Trend bei Spektrum sein sollte.
Ich kann mir vorstellen, dass es nicht immer einfach ist, mit einem Dutzend nerdiger Forscher ein Magazin zu machen (in jeder Ausgabe waren es andere). Mit einem Stamm von Journalisten als Autoren hat die Redaktion natürlich viel mehr Kontrolle über die Abläufe. Das mag rational und einleuchtend erscheinen, zumal die Produktionszeit eines einzelnen Heftes von drei auf zwei Monate verkürzt wurde, doch ich empfinde das als harten Einschnitt – für mich ist es einfach nicht mehr dasselbe. Die Spektrum Spezial Archäologie-Geschichte-Kultur strahlte Ruhe aus, und die Zeit die sie sich nahm, prägte auch das Leseerlebnis.
Damit verliert das Magazin ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zu den gängigen Wissenschaftsartikeln im Internet, ob bei Spektrum, Zeit oder Spiegel. Und durch den Verzicht auf Wissenschaftler als Autoren ist es einfacher geworden, den Stil des Magazins flexibel an den Publikumsgeschmack anzupassen. Ich bin gespannt, ob die neue Spektrum Geschichte das durchaus gute Niveau der Erstausgabe halten wird.
Bleibt mir nur noch, Klaus-Dieter Linsmeier zu danken für die wunderbare Zeitschrift, die unter seiner Ägide entstanden ist. Er hat sich mit der letzten Ausgabe verabschiedet; seine Nachfolgerin wird die Archäologin und Wissenschaftsjournalistin Karin Schlott.
Nachtrag 4.4.20
Da Daniel Lingenhöhl in seinem Editorial explizit um Feedback gebeten hatte, hatte ich ihm einen Link zu diesem Artikel geschickt, und neulich bekam ich eine freundliche Antwort von Karin Schlott.
In Kürze: es soll auch weiterhin Artikel von Wissenschaftlern geben, Archäologie und Anthropologie sollen weiterhin Schwerpunkte bleiben – und sie wollen sich sogar das Schriftbild nochmal angucken. Man darf also gespannt bleiben; ich habe mich sehr über die direkte und persönliche Antwort gefreut.