Der Einsiedler von St. Helena – Die grausame und bewegende Geschichte des Fernão Lopes

Nachdem Vasco da Gama das Kap der Guten Hoffnung umrundet und damit endgültig den Seeweg nach Indien frei gemacht hatte, war die Zeit der Entdecker erstmal vorbei, es begann die Zeit der Verwalter, der Beamten und Krämerseelen – und natürlich des Militärs. Im Gefolge von Da Gamas verhältnismäßig bescheidener Flotte machten sich nun ganze Armadas auf den Seeweg. Auch die Schiffe wurden immer größer, und nur wenige Jahre später waren tausende von portugiesischen Soldaten in Indien stationiert.

Prayash Giria (CC BY-SA)

Wie diese fremde Welt auf sie gewirkt haben mag, können wir nur erahnen. Die meisten waren einfacher Herkunft, wenig gebildet und nahezu rechtlos. Auch die Stellung der niederen Adligen im Heer war kaum besser. Die vielleicht anschaulichste Schilderung liefert uns einmal mehr Stefan Zweig mit der Beschreibung des Indiendienstes eines einfachen Sobresaliente, wie es der junge Magellan zu jener Zeit war:

Er muß Segel reffen im Orkan und an den Pumpen stehen, muß heute Sturm laufen gegen eine Stadt und morgen in der glühenden Sonne Sand schippen für den Festungsbau. Er muß Waren schleppen zum Tausch und Wacht halten in den Faktoreien, zu Fuß kämpfen und zu Schiff, das Senkblei handhaben können und das Schwert, gehorchen und befehlen.

Diese Beschreibung trifft sicher genauso zu auf den tragischen Helden unserer Geschichte, der zur selben Zeit wie Magellan in Portugiesisch-Indien stationiert war: Fernão Lopes.

Der Verrat

Afonso de Albuquerque hatte es nicht leicht. Als Gouverneur Portugiesisch-Indiens hatte er sich mit widerspenstigen Sultanen, unbotmäßigen Untergebenen und intriganten Vorgesetzten herumzuschlagen. Die Eroberung Asiens war ein zähes Unterfangen mit vielen Rückschlägen und immensen Opferzahlen auf beiden Seiten. Erst im zweiten Versuch hatte er 1510 unter großen Verlusten die indische Stadt Goa erobert. Dort baute er ein Fort und ließ eine Garnison zurück, die die örtliche Bevölkerung regieren und für Ruhe und Ordnung sorgen sollte, während Albuquerque sich aufmachte zur nächsten Expedition, dem Ausgriff auf Südostasien, wo die märchenhaft reiche und strategisch wichtige Hafenstadt Malakka mit ihren Schätzen lockte. Eine frühere portugiesische Expedition war dort gescheitert und etliche seiner Landsleute waren als Gefangene des Sultans festgesetzt.

Nach wochenlanger Belagerung und schweren Scharmützeln fiel Malakka schließlich in portugiesische Hände. Aber auch diesen Erfolg konnte Albuquerque nicht lange genießen. Auf der Rückfahrt nach Indien geriet seine Flotte in einen Taifun. Sein Flaggschiff, schwer beladen mit den Schätzen Malakkas und einem Großteil seines eigenen Vermögens, sank auf den Grund des Indischen Ozeans, er selbst kam nur knapp mit dem Leben davon.

Afonso de Albuquerque
Der gestrenge Afonso de Albuquerque

Damit nicht genug, als er nach Goa zurückkehrte, musste er feststellen, dass seine Festung, Benastarim, wieder in die Hände seines Widersachers Rasul Khan gefallen, und, schlimmer noch, ein nicht unerheblicher Teil seiner Untergebenen zum Feind übergelaufen war. Offenbar hatte man sich mit den Moslems arrangiert, einige hatten einheimische Frauen geheiratet und waren sogar zum Islam übergetreten. Sie hatten also nicht nur Hochverrat gegen ihren König, sondern auch gegen Gott selbst begangen – das schlimmste damals vorstellbare Verbrechen.

Unter ihnen war auch Fernão Lopes. Manche Historiker sagen, er wäre der Anführer der Abtrünnigen gewesen, möglicherweise war er aber auch nur ein Mitläufer, dessen Name nur aufgrund der folgenden Ereignisse bekannt wurde.

Ehrenwort und grausige Strafe

Die Rückeroberung Benastarims war angesichts der Kräfteverhältnisse eine vergleichsweise leichte Übung für Albuquerque. Als das größte Ärgernis mag er die Tatsache empfunden haben, dass die Abtrünnigen bis zuletzt auf Seiten des Feindes gegen ihre eigenen Landsleute kämpften.

Normalerweise hätte jeder christliche Befehlshaber nun kurzen Prozess mit ihnen gemacht, aber die Abgesandten der geschlagenen Armee des Rasul Khan bestanden darauf, die Überläufer nur auszuliefern, wenn deren Leben verschont bliebe. Und tatsächlich willigte Albuquerque ein – und er hielt Wort, wenn auch auf besonders grausame Art und Weise. Anstatt die Verräter einfach hinrichten zu lassen, ließ er ihnen Nase und Ohren abtrennen sowie die rechte Hand und den linken Daumen. Haare und Bart wurden mit Muschelschalen abgekratzt. Dann jagte er sie davon.

Die Hälfte der so gemarterten starb in kurzer Zeit an den Folgen der Tortur. Einige versteckten sich im Dschungel oder fristeten ihr Leben als elende Bettler in Goa. Auch Fernão Lopes muss dort geblieben sein, gemieden und verachtet von Landsleuten und Einheimischen gleichermaßen.

Doch er sollte seinen Peiniger um viele Jahre überleben. Afonso de Albuquerque starb 1515, und in jenem Jahr begab sich Lopes auf ein Schiff Richtung Portugal, möglicherweise zunächst als blinder Passagier.

Die Insel

Mitten in den endlosen Weiten des Südatlantiks liegt die Insel St. Helena, einer der abgelegensten Orte der Welt. Ein portugiesischer Kapitän entdeckte sie 1502 auf der Rückreise von Indien. Es gab Robben und Schildkröten dort, die Insel war grün und bot frisches Wasser in Mengen. Sie war ein willkommener Rastplatz, um nach der Umfahrung des Kaps der guten Hoffnung Wasser zu fassen und Kranken und Verletzten etwas Erholung zu gönnen. Man setzte Ziegen aus und pflanzte etwas Getreide und einige Obstbäume, um in Zukunft auch Proviant zu haben. Die Portugiesen hielten diesen günstigen Platz lange geheim, nur wenige Menschen auf Erden kannten diese freundliche kleine Insel.

St. Helena liegt in tropischen Gefilden – näher am Äquator als beispielsweise Rio de Janeiro. Doch das Klima ist ozeanisch, die See sorgt für moderate Temperaturschwankungen übers Jahr, der Südostpassat bringt Wolken und mildert die Tropensonne; die Temperaturen erreichen selbst im wärmsten Monat März selten mehr als 25 Grad.

Xeon (CC BY)

Wir wissen nicht, ob Fernão Lopes tatsächlich nach Portugal wollte, oder ob er nicht von vornherein einen anderen Plan verfolgte. Als sein Schiff St. Helena erreichte, stahl er sich von Bord und versteckte sich. Seine Schiffskameraden suchten nach ihm, doch er hielt sich verborgen, bis sie die Suche aufgaben. Sie ließen ihm jedoch einige Lebensmittel, Kleidung und eine Zunderbüchse zurück. Hier haben wir einen ersten Hinweis, dass Lopes’ Geschichte ihn offenbar nicht zwangsläufig zum Aussätzigen machte, dass ihm trotz seiner Verfehlungen und der furchtbaren, für jeden sichtbaren Strafe auch Mitgefühl und Menschlichkeit zuteil wurden, selbst von jenen, die er einst verriet.

So begann Fernão Lopes sein neues Leben als Eremit in selbst gewählter Verbannung. Trotz seiner Versehrungen grub er sich eine Höhle, die er mit Ästen und Zweigen tarnte. Er hielt sich verborgen und blieb einsam, kehrte der Welt, die ihm so übel mitgespielt hatte, den Rücken. Man möchte glauben, dass diese Einsamkeit wohltuend und tröstlich für ihn war, dass er Zeit brauchte – alle Zeit der Welt – um über sein Leben nachzudenken, über Schuld und Strafe, Verdammung und Vergebung. Vielleicht aber erwartete er auch nichts mehr vom Leben und wollte einfach nur seine Ruhe haben, tot und vergessen bleiben für den Rest der Welt.

Ein Jahr lebte Fernão Lopes in völliger Einsamkeit, ehe sich wieder ein Schiff der Insel näherte. Er versteckte sich im Bergwald und spähte durch das schützende Grün, bis die Menschen seinen Strand wieder verlassen hatten. Als er zum Strand zurückkehrte, stellt er fest, dass man offenbar von ihm wusste. Er fand Zwieback und frischen portugiesischen Käse, viele weitere Lebensmittel – und einen Brief! Er solle sich nicht verstecken, stand darin, und er solle in Zukunft hervorkommen und mit den Leuten reden, und niemand würde ihm etwas zuleide tun.

Lopes blieb misstrauisch. Hinter Felsen verborgen beobachtete er das ablegende Schiff, begierig, die Stille der Insel wieder für sich zu haben. Als sich die Segel blähten und das Schiff sich langsam entfernte, sah er etwas kleines rundes flatternd ins Wasser fallen. Er watete durch die Brandung und fand einen Hahn, halb ertrunken, der von Bord gefallen war. Man mag den aufkommenden Hunger des Asketen nach einem knusprigen Hähnchen nachvollziehen können, allein Lopes brachte es nicht übers Herz. Er fütterte den Hahn mit etwas Reis und hatte so einen neuen Freund gefunden. Der Hahn blieb bei ihm, schlief in der Höhle über seinem Kopf. Tagsüber folgte er ihm und kam, wenn er ihn rief.


Sonderbriefmarke von St. Helena zum 500. Jubiläum der Entdeckung, 2002.
By courtesy of Saint Helena Island Info.

So vergingen weitere Jahre, in denen Fernão sich verbarg, sobald er ein Segel erblickte. Offenbar war mittlerweile bekannt, dass es auf St. Helena einen Einsiedler gab, viele Seeleute stellten ihm Sachen vor seine Höhle, bekamen ihn aber nie zu Gesicht. Doch eines Tages bekam er ungebetenen Besuch, der die Einsamkeit seines kleinen Reiches bedrohte. Manche Quellen erzählen, dass ein javanischer Sklavenjunge von einem Schiff ausbüxte und sich auf der Insel versteckte. Die Seeleute konnten ihn nicht finden und legten ohne ihn ab.

Niemand weiß, was in der folgenden Zeit genau geschah, doch es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, dass Lopes alles andere als erfreut über den ungebetenen Gast war (unabhängig davon, ob die Ethnie eine Rolle spielte, wie mache vermuten). Jedenfalls schien der Junge von seiner plötzlichen Zweisamkeit mit diesem entstellten Sonderling so verstört, dass er sich gleich der nächsten Schiffscrew auslieferte, die in der Bucht landete. Die Seeleute waren begierig, den rätselhaften Einsiedler mit eigenen Augen zu sehen, und so zwangen sie den Jungen, sie zu Lopes’ Versteck im Wald zu führen.

Als sie ihn fanden, soll er gejammert und gefleht haben, ihn nicht mitzunehmen, ihn nicht noch einmal zu bestrafen; doch Kapitän Pero Gomes Texeira war ein verständiger Mann. Er sprach lange mit Fernão und beruhigte ihn, dass er ihm nichts antun werde. Er gab ihm viele nützliche Dinge und versprach, den Jungen mitzunehmen. Dafür nahm er Fernão das Versprechen ab, sich nicht mehr zu verstecken und für das Wohl aller durchreisenden Crews zu sorgen. Er soll ihm sogar eine Art Schutzbrief ausgestellt haben, welcher im Namen des Königs alle Kapitäne anwies, ihn, Fernão Lopes, in Ruhe zu lassen.


Luke McKernan CC BY-SA 2.0

So kehrte Fernão Lopes ein Stück weit in die Gesellschaft der Seinen zurück. Er mag für viele noch rätselhaft geblieben sein, ein etwas unheimlicher Sonderling, eine düstere Legende – ein Ausgestoßener war er nicht mehr.

Wenn ein Schiff in der Bucht (dem späteren Hafen von Jamestown) ankerte, begrüßte Lopes nun die Matrosen und unterhielt sich mit ihnen, als sie an Land gingen. Er lehnte jedoch alle Angebote heimzufahren rigoros ab. Aufgrund seiner Missgestalt und der dunklen Geschichte, die ihn umwehte, gab er der Insel etwas mystisches, und so wurde er mit der Zeit als eine Art Heiliger angesehen. Viele hielten ihn für die Verkörperung von menschlichem Leid und Entfremdung, und sie hatten Mitleid mit ihm. Die Reisenden, die auf der Insel anhielten, versorgten ihn nun regelmäßig mit Vieh und Saatgut. Schließlich wurde Lopes zum Gärtner und Viehzüchter, der den Boden bearbeitete und Obstbäume, Getreide und vielerlei Nützliches wachsen ließ.

Die alte Welt

So wurde die Geschichte des Fernão Lopes langsam in der alten Welt bekannt. Irgendwann bekam sie sogar Dom João III, der König von Portugal, zu Ohren und beschloss, Lopes einen Brief zu schreiben, in dem er ihm freies Geleit zusicherte, falls er in sein Vaterland zurückkehren wolle. Doch zu groß schien die Angst und die Entfremdung von der jähzornigen Welt der Menschen, als dass Lopes dieses Vertrauen hätte aufbringen können.

Doch seitdem mag etwas in ihm gearbeitet haben, vielleicht besann er sich auf seine Religion, die Vergebung eindeutig vorsah, vielleicht änderte sich seine Sichtweise in dem Maße, wie der Kokon seiner Einsamkeit durch die nun häufigeren Kontakte mit Landsleuten durchlässiger wurde.

Und eines Tages, nach mehr als einem Jahrzehnt als Einsiedler, bestieg Fernão Lopes das Schiff eines ihm vertrauten Kapitäns und fuhr zurück nach Europa. Er wohnte bei der Familie des Kapitäns in Lissabon. Der Lärm und die Hektik der Stadt und ihrer vielen Menschen müssen ihn so verängstigt haben, dass er sich zunächst nur nachts aus dem Haus traute.

Lopes bekam eine Audienz beim König und der Königin. Sie gewährten ihm Vergebung seines Verrats und boten ihm Unterkunft in einem Kloster an, in dem er sein weiteres Leben in (relativer) Einsamkeit leben könne. Doch das war nicht in Lopes’ Sinne. Nicht nur vor dem weltlichen Gericht des Königs wollte er Begnadigung. Er wusste, er würde nur wirklichen Frieden finden können, wenn er auch vor Gott Vergebung fände.

Nun konnte aber eine so schwere Sünde wie Apostasie – Abfall vom rechten Glauben – nicht von jedem beliebigen Beichtvater vergeben werden. Absolution war in diesen Fällen dem Papst persönlich vorbehalten. Und so machte sich Fernão Lopes mit dem Segen des Königs auf den Weg nach Rom.

Jedes Jahr zur Osterwoche nahm der Papst die Gnadengesuche der gläubigen Sünder in einer großen Zeremonie im Petersdom entgegen. Auf einem hohen Podest thronend überblickte er die Menge von Büßern und Schaulustigen. Einer nach dem anderen stieg nun die steilen Stufen empor und kniete vor dem heiligen Vater nieder. Dieser beugte sich hinab, schlug seinen weiten Umhang um den Büßer, und so, vor aller Augen und Ohren Schutz bietend, hörte er sich die Beichte an und erteilte die Absolution.

Möglicherweise war die Geschichte des Fernão Lopes zu jener Zeit schon weithin bekannt, und es mögen sich viele Schaulustige eingefunden haben, um ihn zu sehen. Der Papst jedenfalls kannte Lopes’ Fall und war auch an dieser Person interessiert. So lud er ihn nach der Zeremonie noch zur Privataudienz, in welcher er ihm versprach, ihm einen Wunsch zu gewähren. Lopes hatte nur ein Verlangen: auf seine Insel zurückzukehren. Er befürchtete, der König könne ihn in Portugal behalten wollen. So schrieb Papst Clemens VII. einen Brief an Dom João III., in dem er Lopes die freie Rückkehr in sein Exil zusicherte. Der König stellte sich dem nicht entgegen, und so kehrte Fernão Lopes, nun mit erleichtertem Gewissen, in sein Reich zurück.

Hier betätigte er sich weiterhin als „Gärtner im Garten Eden“, er baute Kürbisse, Granatäpfel und Palmen an, hielt Ziegen, Schweine und Geflügel und versorgte durchreisende Schiffe mit Wasser und Proviant. Die meiste Zeit aber lebte er weiterhin in völliger Einsamkeit, zwanzig weitere Jahre lang. Er soll an die siebzig gewesen sein, als er um 1546 auf St. Helena starb.

Peter Neaum CC BY


Quellen

Gaspar Correia
Lendas da Índia
Livro segundo, Tomo II, Capitulo XXXIX
(16. Jahrhundert)
https://archive.org/details/lendasdaindiapubt2p1corr/page/316/mode/2up

Hugh Clifford, C.M.G.
The Earliest Exile of St Helena.
Blackwoods Edinburgh Magazine
Vol. CLXXIII 1903
S. 621
https://archive.org/stream/blackwoodsmagazi173edinuoft#page/620/mode/2up


Fortsetzung: Anmerkungen zu Fernão Lopes, Teil 1


 

2 Kommentare

  1. Mal wieder einen hoch interessanter und fesselnder Beitrag von Dampier.
    Danke sehr dafür und mehr davon.
    Herzlichst
    vvbb

  2. Hallo vvbb, danke, freut mich, wenns dir gefallen hat! Mehr davon gibt’s wahrscheinlich schon bald. Da der Artikel immer länger wurde, habe ich ihn kurzerhand zweigeteilt. Teil 2 ist auch fast fertig.

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